Mittwoch, 30. April 2025

Jakobus im Tresor


Das Unmögliche zu wollen, ist die Voraussetzung dafür, das Mögliche zu schaffen.
Karl Liebknecht


Wie ein Zugvogel folge ich dem Schwarm, den die gelbe Muschel mir weist. Gedankenlos und zuversichtlich wie ein Kind, dem Erwachsene den richtigen Weg weisen. Und ihr Weg führt bergauf. Mehr als mir lieb ist, die erste Prüfung des Tages. Die Synchronität von Wanderweg und Lebensweg: einmal hinauf in Euphorie und Glück, ein anderes Mal hinab in Konflikte und Herausforderungen. Das Klack-Klack meiner Stöcke klopft auf asphaltierte Wirtschaftswege; weithin zu hören. Die Vögel schweigen, als ich näherkomme, weit und breit sehe ich weder Menschen noch Tiere. Auch kein gezähmtes Vieh auf der Weide. Das Land breitet sich scheinbar bewegungslos vor mir aus, und ich bin allein mit mir. Gut, dass wenigstens die Insekten geblieben sind, meine treuesten Gefährten.

Sonntag, 27. April 2025

In der Westlausitz


Reisen ist tödlich für Bigotterie, Vorurteile und Engstirnigkeit.
Mark Twain


Morgens liegt der Hutberg einsam und verlassen in der zögernden Morgensonne. Ausgeschlafen, gut gefrühstückt, die frischen Vorräte von gestern aufgegessen, mache ich mich mit leichterem Gepäck wieder auf den Weg. Die Nacht hat das bunte Treiben der Ausflügler ausgelöscht. Die Verkaufsbuden, an denen gestern Gedränge herrschte, zeigen mir ihre leeren Fassaden und sind verschlossen. Das Amphitheater der vielen Bänke und Tische gähnt verlassen zu mir herauf. Im Schatten des Turms liegt morgendlicher Dunst über dem Berg, den die schüchterne Sonne noch nicht aufgelöst hat. Die friedliche Stille des Ortes breitet sich als ruhig verströmende Welle in mir aus. Ohne den Morgengesang der Vögel und das Rauschen der leichten Brise in den Baumwipfeln wäre sie absolut. Technische Geräusche und die Unruhe versammelter Menschen fehlen. Doch in der Natur ist es nie ganz still. Ich bleibe noch einen Augenblick und lausche den Naturgeräuschen, die eine eigene Art der Stille sind. Mein Lohn für die gestrige Mühe, am Ende des Tages, müde und lustlos, die steile Hutbergstraße hinaufgestiegen zu sein.

Donnerstag, 24. April 2025

Lessing in Kamenz


Es sind nicht unsere Unterschiede, die uns trennen. Es ist unsere Unfähigkeit, jene Unterschiede zu erkennen, zu akzeptieren und zu feiern.
Audre Lorde


Es war eine seltsame Begegnung, die mit den beiden einzigen Mitpilger*innen auf der Via Regia. Der gemeinsame Abend im Petri-Zimmer in Bautzen setzt sich unterwegs nicht fort. Von der einen oder anderen Bemerkung, einem flüchtigen Blick, abgesehen, gehen wir uns aus dem Weg. Allan ist wirklich der Däne, von dem mir Frau Wujanz in Nechern erzählt hat. We lebt und arbeitet er mit seiner Partnerin in Bremen. Beide halten sich für "alte Hasen" auf den Jakobswegen in Spanien und Deutschland; sagen sie. Doch die kurzen Augenblicke auf dem Weg reichen nicht für Persönliches. Es zieht sie jedes Mal schneller weiter, als mir gefällt. Der Tag ist inzwischen heiß geworden. Mein Hemd ist schon wieder schweißnass, und der Hosenbund feucht. Astrid und Allan sind heute noch eiliger unterwegs.

Dienstag, 22. April 2025

Eine Pilgeroase in Crostwitz


Ich folge meinen Träumen, sonst ist mein Leben wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln.


Ich verabschiede mich früh von Astrid und Allan, meinen beiden Mitpilgern, mit denen ich mir das Petri-Zimmer geteilt habe. Sie stehen gerade erst auf, als ich aufbreche. Wir saßen gestern Abend noch lange zusammen, eine Flasche Wein lang, und erzählten uns Geschichten von Reisen: Erlebnisse und persönliche Legenden, wie das Wanderer eben tun. Jede Begegnung, die unsere Seele berührt, hinterlässt eine Spur, die nie ganz verweht. Wie recht, denke ich, als ich die Treppe nach unten nehme, hat Lore-Lillian Boden, als mir der gestrige Abend wieder in den Sinn kommt. Es sind immer nur Fragmente, aus einem persönlichen Mosaik genommene, glänzende Steinchen, die sich zwischen anderen, inneren Sedimenten abgelagert haben. Trotzdem werde ich die beiden nicht vergessen. Dafür ist die emotionale und geistige Gespanntheit einer Fußreise zu intensiv.

Samstag, 19. April 2025

Die sorbische Metropole


Time is Monkey!
Graffiti Bautzen


Ich breche zeitig auf. Es ist noch nicht neun Uhr, als ich mich von den freundlichen Bauersleuten verabschiede. Die Bäuerin erklärt mir eine Abkürzung zurück auf die Via Regia, nicht ohne mir ans Herz zu legen, in der Tortenzauberei im Ort vorbeizuschauen, und mir Pilgerkekse zu kaufen. Die besondere Bäckerei finde ich im Blauen Hof am Ortsrand von Nechern. Die gelernte Konditorin Frau Tschipke fertigt in Ihrem Meisterbetrieb individuell nach Kundenwunsch Kuchen und Torten wie aus Großmutters Zeiten an. Sie hat auch an Stärkendes für die Pilger gedacht. Ich zögere zuerst einzutreten, da ich glaube, mich geirrt zu haben, sehe dann aber eine Tür, die nach einem Laden aussieht. Unmittelbar stehe ich mitten in der Backstube, wo zwei Frauen in weißen Schürzen arbeiten. Ich will schon wieder heraus, als mich eine der Frauen zurückruft, und mich freundlich hereinbittet. Ich bin richtig, meint sie, Laden und Backstube sind ein Raum. Dann erst sehe ich die Verkaufstheke, die hinter den Gerätschaften der Backstube fast verschwindet; beladen mit Cellophantüten, aus denen verschiedene Kekssorten locken. Eine der beiden Frauen präsentiert mir stolz ihr Sortiment von Pilgerkeksen. Die Auswahl fällt mir schwer, aber schließlich ziehe ich mit einer Tüte mit Ingwerkeksen meines Wegs.
Ein schöner Feldweg, den auf einer Seite eine große Hecke begrenzt, führt aus Nechern ins Freie. Am sogenannten Schwedenstein treffe ich auf die Via Regia. Dieser Findling, nur im Volksmund so genannt, erinnert an eine Episode des Nordischen Krieges, der zwischen 1700 und 1721 hier stattgefunden hat. Als ein Monument der Erinnerungskultur hat ihn der Wurschener Grundbesitzer, Freiherr von Thielau 1810 aufgestellt.

Mittwoch, 16. April 2025

Durch die Gröditzer Skala


Ein Land ist nicht nur seine Landschaft, es ist auch seine Geschichte. Wenn die alten Namen verschwinden, verschwinden die Geschichten mit ihnen. Die neuen Namen rufen keine Erinnerung an die Vergangenheit mehr wach.


Ich schaue aus dem Fenster und verliere die Lust aufzustehen. Anscheinend hat es die ganze Nacht geregnet. An den Scheiben verbinden sich die Tropfen zu Rinnsalen, die langsam abwärts fließen. Leben heißt, auf etwas zuzuwandern. Doch warum gleich im Regen? Ortega y Gasset hat diesen Satz sicher am Schreibtisch und im Trockenen geschrieben, beruhige ich mich, bleibe liegen und verschlafe schließlich.

Montag, 14. April 2025

Aufbruch an der Neiße


Friede für die Abenddämmerungen, die da kommen,
aber sie sind noch nicht da.
Friede für alle, die da leben,
aber für keinen, der da mordet.
Und dann: Friede
Friede der gesamten Erde und den Wassern

Jürgen Theobaldy


Ich schlafe gut Nacht im Schlafsaal des Hauses der Begegnung der Methodisten in Görlitz, in Geriz, wie die Sorben sagen. Polnisch Zgorzelec, denn Görlitz ist eine geteilte Stadt und gehört auch Polen. Ich bin früh unterwegs, schon vor acht auf dem Weg. Ich brenne darauf, loszugehen, um zu sehen, was es zu sehen gibt. Wieder einmal wird mir bewusst: Es ist Zeit, etwas Neues zu beginnen, und noch ein weiteres Mal dem Zauber des Anfangs ins Auge zu sehen.

Donnerstag, 10. April 2025

Auftakt in Görlitz


Was ich erlebt habe, kann mir niemand nehmen. Ein tief in mir verborgener Schatz, der zu leuchten beginnt, wenn ich die Augen schließe.


Ich habe meine Fußreise noch nicht begonnen, und schon läuft mir der Schweiß den Rücken hinab. Als ich die U-Bahn am Südstern erreiche, weiß ich, dass mein Rucksack zu schwer ist. Ich habe lange überlegt, was ich wirklich brauche. In den letzten Tagen habe ich aussortiert und wieder eingepackt, und zuletzt die Entscheidung für zu viel getroffen. Während ich zum Südstern gehe, fällt mir nichts ein, was ich wieder auspacken kann. Einfachheit und Bescheidenheit zu wollen, heißt nicht zugleich, sie auch leben zu können. Idealisierung ist leicht, mit den Konsequenzen zu leben, etwas völlig anderes. Wieder ist mir mein Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle in den Rücken gefallen. Eine Fußreise ist alles andere als überschaubar oder planbar. Loslassen eine Kunst, die sich gegen meine eingeübten Gewohnheiten und alltäglichen Routinen zur Wehr setzt. Während ich in den U-Bahnschacht hinabsteige, kommt mir ein Satz von Nelly Sachs in den Sinn - Alles beginnt mit der Sehnsucht - den mir ein Arbeitskollege einst zum Geburtstag schenkte. Weil er zu mir passt, habe ich ihn nie vergessen. In der überfüllten U-Bahn tropft mir der Schweiß von der Stirn. Gleich zu Beginn überfällt mich die Unsicherheit vor einer Reise, wie ich noch keine unternommen habe: Allein durch unbekanntes Gebiet zu wandern, eine Gegend in Deutschland, mehr oder weniger dicht besiedelt und strukturiert, und mir trotzdem völlig fremd ist. Lampenfieber, beruhige ich mich, das Gefühl des Unvorhersehbaren. Vorfreude, die schönste Form des Wartens. Durch meine Aufregung komme ich viel zu früh am ZOB an. Trotz der morgendlichen Stunde herrscht zwischen den Bussen bereits reges Leben. Der Bus nach Görlitz ist fast leer. Nur fünf Fahrgäste und kein Geschäft für den Postbus. Für mich eine angenehme, vierstündige Reise.

Montag, 7. April 2025

Via Regia - die Königliche Straße


Denken wie der Tiger springt; schreiben wie der Bogenschütze schießt;
wachsam und scharf sehen wie ein Raubvogel in den Lüften:
das zusammen macht einen Autor.

Franz Carl Heimito Ritter von Doderer


Die Via Regia, die königliche Straße, war im Mittelalter ein Handelsweg, der Ost- und Westeuropa miteinander verband. Eine internationale kommunikative Achse aus dem Osten in den Westen Europas. Eine ökonomische und soziale Infrastruktur, Teil eines Netzwerks für den Austausch von Gütern, Ideen und Werten. Diese Straße stand im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation unter dem Schutz der königlichen Zentralgewalt. Land- und Heerstraßen gab es im mittelalterlichen Europa viele. Eine der bedeutendsten war die als Hohe Straße bezeichnete Via Regia, die Flandern mit dem Rheinland, das Rheinland mit Schlesien, und Schlesien mit Russland verband. Eine kulturübergreifende, europäische Ost-West-Achse, die germanische und slawische Nationen miteinander in Kontakt brachte.