Denken wie der Tiger springt; schreiben wie der Bogenschütze schießt;
wachsam und scharf sehen wie ein Raubvogel in den Lüften:
das zusammen macht einen Autor.
Franz Carl Heimito Ritter von Doderer
Die Via Regia, die königliche Straße, war im Mittelalter ein Handelsweg, der Ost- und Westeuropa miteinander verband. Eine internationale kommunikative Achse aus dem Osten in den Westen Europas. Eine ökonomische und soziale Infrastruktur, Teil eines Netzwerks für den Austausch von Gütern, Ideen und Werten. Diese Straße stand im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation unter dem Schutz der königlichen Zentralgewalt. Land- und Heerstraßen gab es im mittelalterlichen Europa viele. Eine der bedeutendsten war die als Hohe Straße bezeichnete Via Regia, die Flandern mit dem Rheinland, das Rheinland mit Schlesien, und Schlesien mit Russland verband. Eine kulturübergreifende, europäische Ost-West-Achse, die germanische und slawische Nationen miteinander in Kontakt brachte.
In einer Urkunde des Markgrafen Heinrich von Meißen wird die Via Regia 1252 zum ersten Mal als Strata Regia, königliche Straße, erwähnt. Ihre Anfänge reichen allerdings bis ins 8. Jahrhundert zurück. Die Hohe Straße folgte den Flusstälern, an deren leicht kontrollierbaren und strategisch günstigen Furten die Handelsposten lagen, Siedlungen und die Städte in ihren Verlauf einbezogen werden konnten. Nach dem Niedergang der königlichen Zentralgewalt, spätestens jedoch seit dem 14. Jahrhundert, kann von diesem Handelsweg als von einer rechtlich verbindlichen Via Regia nicht mehr gesprochen werden. In ihrer Funktion, unter dem inzwischen eingebürgerten Namen Hohe Straße, bestand sie als Handelsweg weiter. Einzelne Fürsten oder Landesherren, besonders der König von Böhmen, sowie die sächsischen Kurfürsten, hatten Kontrolle und Schutz für diese Straße in Mitteldeutschland übernommen, die weiter von großer wirtschaftlicher Bedeutung für den überregionalen Handel und Warenaustausch war. Die Via Regia verband die beiden großen Messestädte Frankfurt am Main und Leipzig. Auf ihr wurden Textilien und Felle, Wachs, Honig und Holz aus Westeuropa im Tausch gegen den Färberwaid des Thüringer Beckens sowie die Bergbauprodukte Obersachsens und Schlesiens befördert.
Auch das Militär machte sich die Achse Via Regia für die Bewegungen ihrer Armeen zunutze. Im Einzugsbereich der Straße fanden historisch bedeutende Schlachten statt, wie die von Hochkirch, Auerstedt, Großgärschen oder Bautzen. Nach der Niederlage Napoleons und den strukturellen Veränderungen in Mitteldeutschland nach dem Wiener Kongress von 1815 verlor die Hohe Straße ihre Regionen verbindende Bedeutung immer mehr. 2005 wurde sie vom Europarat zur europäischen Kulturstraße erklärt. Sie ist nicht länger eine Handelsstraße, aber sie verläuft immer noch von Breslau in Schlesien nach Görlitz und Bautzen, über Kamenz, Königsbrück, Großenhain, Eilenburg, Grimma, Leipzig, Weißenfels, Naumburg an der Saale, Eckartsberga, Erfurt, Eisenach, Hünfeld, Fulda, Neuhof, Steinau an der Straße, Gelnhausen und Hanau nach Frankfurt am Main, und von dort über den Rhein weiter bis in die Handelszentren und Häfen Belgiens und den Niederlanden. Wer will kann über die Hohe Straße von Görlitz an der Neiße nach Vacha an der Werra wandern, den Teil, der als Ökumenischer Pilgerweg erschlossen wurde und von ehrenamtlichen Helfern gewartet wird. Was einst Verpflichtung von Königen war, haben Bürger in Eigeninitiative übernommen.
Auf der Via Regia haben im Verlauf der Jahrhunderte viele Pilger, die aus dem Osten Europas kamen, um an der Aachener Heiligtumsfahrt teilzunehmen, diesen Weg über Eisenach, Marburg und Köln nach Westen genommen. Als Pilgerweg bietet die Via Regia auch die Möglichkeit, das Wegenetz der Jakobswege nach Santiago de Compostela zu erreichen. Der Prophet Jeremias hat die Menschen aufgefordert: Tretet auf die Wege und schauet und fraget nach den vorigen Wegen, welches der gute Weg sei, und wandelt darin, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele! Aber sie sprachen: Wir wollen´s nicht tun! Löst man dieses Statement aus seinem religiösen Kontext, findet sich darin ein unerwartet aktueller Bezug.
Der Ökumenische Pilgerweg, der 2003 eröffnet wurde, und der sich am Verlauf der historischen Via Regia orientiert, stellt diese Jeremias-Stelle, etwas abgewandelt, seinem Pilgerführer voraus. Sein Anliegen besteht darin, Menschen aufzufordern, sich auf den Weg zu machen, sich und die Schöpfung anders und neu zu erfahren, sich denjenigen, die Jahrhundertelang vorausgegangen sind, anzuschließen; sich selbst neu zu orientieren und seine Umgebung anders zu entdecken. Sich in seinem Lebensraum neu zu positionieren. Etwas davon auszuprobieren und wahr zu machen, was eine nachhaltige Einstellung fördert. Die Via Regia verbindet Ost- mit Westeuropa, der ökumenische Pilgerweg die Neiße mit der Werra, zwei Grenzflüsse, die in der Geschichte Deutschlands eine traurige Rolle gespielt haben. Wer auf diesem Abschnitt der Via Regia wandert, pilgert auf dem guten Weg des Friedens und der Verständigung, zwischen Stadt und Land, zwischen Deutschland und Polen, zu einer Welt, in der Grenzen ein Auslaufmodell werden müssen und die Vision von Schengen bewahrt bleibt. Vor diesem historischen Hintergrund bedeutet Wandern auf der Via Regia, oder Pilgern, wie man möchte, Schritte zu einem Europa ohne Grenzen; nicht in den Köpfen und nicht auf der Landkarte.
Die Bezeichnung Pilger, vom lateinisches Peregrinus abgeleitet, in der Fremde sein, meint heute eine Einzelperson, die aus religiösen Gründen in die Fremde geht, die zu Fuß und mit bescheidenen Mitteln eine Wallfahrt zu einem Pilgerort unternimmt, immer auch eine Reise ins Ungewisse, denn nie ist sicher, was der Tag bringt. Selbst der moderne Pilger verlässt sein vertrautes Alltagsleben und zieht in die Fremde. Er tut das weniger aus religiösen Motiven als auf der Suche nach Sinn und Bedeutung in seinem Leben, nach einer neuen Perspektive oder nur, weil er, wie die Romanfigur Harold Fry, in Rachel Joyce` Roman über eine unwahrscheinliche Pilgerreise, einer abtötenden Routine für kurze Zeit entkommen will. Er nimmt für sich eine spirituelle Motivation in Anspruch, die nicht konfessionell, vielleicht nicht einmal religiös ist, die keine Buße im Sinn hat, die er als Selbstheilung und Selbsterkenntnis versteht. Schließlich erkennt er, dass er den Weg nicht in Kilometern misst, sondern in Erinnerungen. Diese therapeutische Dimension unterscheidet den Wanderer vom Pilger, die beide Fußreisende sind.
Der Ökumenische Pilgerweg führt nur ein kurzes Stück, etwas mehr als vierhundert Kilometer, über die historische Via Regia im Süden der ehemaligen DDR. Ein ehrenamtlich tätiger Verein wartet und betreut diesen Weg, hat ihn mit der traditionellen Muschel der Jakobswege, gelb auf blauem Grund, durchgehend markiert. Überall am Weg übernehmen Anwohner die Rolle von Trail Angels, unterstützen die Pilger als Herbergseltern, gewähren ihnen Gastfreundschaft und Ruhephasen. Sie helfen mit, dass der Pilger sein Ziel erreicht. Begegnung und Wegmarkierung mindern sein Gefühl der Fremdheit. Er fühlt sich gestützt auf einem Weg, von dem er weiß, dass er ihn nicht in die Irre führt. Obwohl er allein geht, wandert er gemeinsam mit anderen, die zeitlich und räumlich vor und hinter ihm unterwegs sind und waren. Die Muschel ist das internationale Symbol der Jakobspilger. Ihre Bedeutung hängt mit einer Legende zusammen. Sie macht Jakobus den Älteren zum Patron der Pilger, die sein Grab in Santiago de Compostela besuchen. In den Augen der Sesshaften, der Konsumenten und Wohlstandsbürger, macht sich der, der sucht, immer lächerlich. Er gleicht dem Narren im Labyrinth. Sie halten ihn für ein kleines Kind, das nicht versteht, wovon die Großen reden.
Die Aufforderung zu einer Pilgerschaft auf dem Ökumenischen Pilgerweg der Via Regia richtet sich an alle Menschen, unabhängig von Dogma und Doktrin; weltlich oder religiös motiviert. An alle, die sich für ein unverhofftes Miteinander öffnen, die Begegnung mit den Menschen suchen, die am Weg leben, die sich austauschen und aneinander teilnehmen wollen, die mit sich selbst in der Stille der Natur nach Antworten auf existenzielle Fragen suchen. Der Weg ermöglicht den Pilgern, Wanderern oder Reisenden, selbst den Touristen, gleichgültig wie sie sich selbst verstehen, eine innere Einkehr, eine Rückbesinnung auf das Wesentliche ihres Lebens, Kontemplation, Meditation, religio im ursprünglichen Wortsinn, fernab von Konfession, und den Reizen und Ablenkungen einer globalisierten Welt, die den Menschen von sich selbst entfernt. Entfremdet! Die Rede vom Weg, der das Ziel ist, kommt nicht von ungefähr. Jeden Weg zu gehen, der herausfordert und fördert, ist eine leibliche und psychische Erfahrung. Sie gelingt dem einsam wandernden Pilger am besten, bringt ihn in seine Ganzheit zurück. Geh weiter, schreibt Wolfgang Büscher, auch wenn du es nicht verstehst. Du wirst es morgen verstehen. Es war ein einfaches starkes Mantra, seine Magie funktionierte immer. Ein absurd klingender Vorschlag, für den, der noch nicht weiß, dass zu gehen vieles vermag. Als ein alter, schon lange genutzter Weg, hat die ehemalige Via Regia zwischen Görlitz an der Neiße und Vacha an der Werra im Ökumenischen Pilgerweg eine neue Funktion gefunden.
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