Montag, 14. April 2025

Aufbruch an der Neiße


Friede für die Abenddämmerungen, die da kommen,
aber sie sind noch nicht da.
Friede für alle, die da leben,
aber für keinen, der da mordet.
Und dann: Friede
Friede der gesamten Erde und den Wassern

Jürgen Theobaldy


Ich schlafe gut Nacht im Schlafsaal des Hauses der Begegnung der Methodisten in Görlitz, in Geriz, wie die Sorben sagen. Polnisch Zgorzelec, denn Görlitz ist eine geteilte Stadt und gehört auch Polen. Ich bin früh unterwegs, schon vor acht auf dem Weg. Ich brenne darauf, loszugehen, um zu sehen, was es zu sehen gibt. Wieder einmal wird mir bewusst: Es ist Zeit, etwas Neues zu beginnen, und noch ein weiteres Mal dem Zauber des Anfangs ins Auge zu sehen.
Nach dem freundlichen Empfang gestern, fällt der Abschied von den Herbergseltern heute Morgen unerwartet kühl aus. Sie sehen verschlafen aus, als ich anklopfe, um ihnen den Schlüssel zurückzugeben. Habe ich sie geweckt? Sie haben so früh nicht mit mir gerechnet. Vielleicht gefällt es ihnen nicht, dass ich nicht um einen Pilgersegen bitte? Die Herbergsmutter drückt mir missmutig den Stempel in den Pass und gibt mir den Segen schriftlich mit auf den Weg. Die Ansichtskarte, die sie mir in die Hand drückt, sagt sie, soll meine Erinnerung an Görlitz sein. Ich schaue nach, und sehe auf dem Bild den Eingang zur Ochsenbastei. Zum ersten Mal, und weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Warum die Fotografie eines Teils der ehemaligen Stadtbefestigung, auch wenn sie zu den sehenswerten Resten der mittelalterlichen Görlitzer Stadtmauer gehört? Damals wurde das Vieh noch in die freie Neißeaue getrieben, vor die Mauer, und die Bastei diente dem Schutz des Tores und der Viehweide; so erhielt sie ihren Namen. Aber das ist Vergangenheit. Modernes Vieh genießt diese Privilegien nicht mehr. Es würde die Flussaue überfordern, die Tiere alle zu ernähren, die ihr täglich Fleisch für den Fleischkonsumenten liefern. Es ist wohl »humaner«, sie wegzusperren, damit ihr Elend nicht zu offensichtlich wird, und die Kinder erschreckt, deren Fell noch nicht so dick ist. Wie oft habe ich schon erlebt, dass sie sich weigern Fleisch zu essen, wenn sie erfahren, wo es herkommt. Es muss nicht einmal das Lieblingskaninchen sein, wenn es Ostern unerwartet auf den Tisch kommt. Gestern las ich in der Zeitung, dass ein Huhn dem Schlachter entkommen ist. Ist es so weit? For the loser now will be later to win / for the times they are a-changin‘, prophezeite Bob Dylan bereits 1963. Endlich ist die Zeit angebrochen Vielleicht geht aber auch nur meine vegetarische Fantasie mit mir durch, und das Ochsentor soll nur meinen Aufbruch als Pilger aus der Stadt symbolisieren, über die Schwelle, in die Liminalität? Die geheimnisvolle Metapher vom Weg, der das Ziel ist. Davon sprechen auch die Glückwünsche auf der Rückseite, die mich berühren, und die ich mir nicht passender vorstellen kann:

Ich wünsche dir, dass deine Augen
leuchten, wenn du zurückkommst,
entspannt, glücklich, friedvoll und gelassen.
Neue Heiterkeit soll aus ihnen strahlen,
ein heller Widerschein, wohltuende
Eindrücke, Träume und Gedanken.
Vor allem aber sollen deine Augen
vor Freude glänzen, weil dein Ja zum
Leben größer geworden ist.
Welch ein Segen!

Sicherlich ein Ideal, dieses Ja zu leben. Aber es ist erst vollkommen, wenn es alle Kreaturen miteinschließt, die ganze Natur unseres Planeten. Erst wenn es so weit ist, bin ich bereit, wieder von Gott zu reden. Was soll ich sonst von meiner Fußreise erwarten, gleichgültig, ob Pilgerschaft oder Wanderung, als ein Stück weiter auf diesem Weg zu gehen. Vielleicht noch etwas mehr Bescheidenheit und Demut üben? Mir ist das Gehen wichtig, das mich nicht nur geografisch weiterbringt. Einen anderen Wunsch, ein anderes Ziel, habe ich jetzt nicht. Den geschenkten Pilgersegen schiebe ich in meinen Rucksack, und nehme ihn mit auf den Weg. Fürs erste hat er mir genug Gedanken gebracht.
Um Proviant einzukaufen ist es noch zu früh. Aus einer Bäckerei duftet es köstlich nach frischem Brot. Ich hole mir eins der warmen Croissants, dazu einen zu schaumigen Cappuccino aus dem Kaffeeautomaten. Draußen setze ich mich an einen der Tische in die warme Morgensonne, und warte bis die Postfiliale öffnet. Passanten huschen mit gesenktem Blick vorüber. Wer weiß schon, wohin sie sich beeilen? Ich habe Zeit, und genieße den Gedanken, dass ich nichts muss, aber alles kann. Die Jahre, in denen ich einer von ihnen war, jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit in eine täglich ungeliebtere, unlebendige Routine gezwängt, sind endgültig vorbei. Jetzt bestimme nur noch ich über meinen Tag. Gute Gedanken am Beginn einer wochenlangen Fußreise.
Auf dem Postamt schicke ich die gestern Abend aussortierten Dinge zurück nach Berlin; darunter meine Sandalen. Der letzte Luxus für meine Füße macht sich auf den Weg zurück nach Hause. Kaum habe ich mein Gepäck geschultert, weiß ich, dass meine Entscheidung richtig war. Jetzt kann ich den Rucksack tragen, ohne ständig schmerzhaft das Gewicht auf meinem Rücken zu spüren. Es war nur ein wenig zu viel, doch das Wenige war genug, um mir Schwierigkeiten zu bereiten. Gewicht ist Angst, behaupten die Ultralight-Trekker. Ich werde mir ihre Lektion merken, die auch auf anderes im Leben zutrifft. Es sind die Kleinigkeiten, auf die es ankommt, und die mitunter schwer wiegen. Solche kleinen Dinge müssen morgens wieder festgestellt werden, nach den großen Dingen nachts, Oder - wie ich das sehe - in vielem sind es die kleinen Dinge die weiterbringen. Jürgen Theobaldys Gedichtband Blaue Flecken von 1974 gehört noch immer zu meinen Favoriten. Wenn es auch die meisten nicht glauben wollen, es lebt sich leichter ohne viel Besitz.
Vom Postplatz gehe ich hinunter ans Neißeufer, unterhalb der Pfarrkirche, wo die Via Regia auf dem rechten Neißeufer in Zgorzelec beginnt, dort, wo sich im Jahr 1264 das Stadthospital zum Heiligen Geist befand, das auch Pilger beherbergt haben soll. Ich gehe noch einmal am Friedhof der Nicolaikirche vorbei, und sitze eine Weile auf der Bank vor Böhmes schlichten Grabstein. Ich möchte ihm eine seiner Bemerkungen als Epitaph in den Grabstein meißeln: Lass das Grün des Lebens in deine Augen fließen, um heimisch zu werden in der fremden Welt, die gelebt sein möchte. So ließe sich mein Pilgersegen auch formulieren. Aus dem Moment der Besinnung werde ich durch den Motorenlärm gerissen, den Arbeiter inszenieren, um mit ihren Rasenmähern der Natur ihren Willen aufzuzwingen.

Ich war mir meiner Ortskenntnis völlig sicher, und nun irre ich durch die Gassen der unteren Altstadt auf der Suche nach der Via Regia. Schließlich frage ich eine junge Frau, die ihre französische Bulldogge auf einem Morgenspaziergang begleitet. Trotzdem dauert es noch eine Weile, bis ich aus der Stadt herausgefunden habe, denn auf meiner zweiten Fernwanderungen lässt mein Orientierungssinn noch sehr zu wünschen übrig. Das berühmte Heilige Grab, eine Replik des Jerusalemer Vorbilds aus dem 15. Jahrhundert, ist noch geschlossen. Ein anderer Sohn der Stadt, der Bürgermeister Emmerich, hat es nach seiner Pilgerfahrt ins Heilige Land als Sühne für eine Vergewaltigung gestiftet und als Miniatur nachbauen lassen. Sicherlich ein sehenswertes Zeitdokument. Doch ich mag nicht warten und erst recht keinem Vergewaltiger die Ehre geben. So weit reicht meine Fähigkeit zu vergeben noch nicht. Der Gedanke, dass man sich von schweren Sünden durch eine Pilgerfahrt reinigen kann, scheint mir nicht angemessen zu sein. Allzu einfach und genussvoll scheint mir eine solche Buße zu sein. Mir fehlt die Übernahme der Verantwortung und die Wiedergutmachung. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die Pilgerfahrt des Töters das Trauma einer Vergewaltigung heilen kann. Durch ein schlichtes Bauwerk sicherlich nicht.

Den Weg nach Ebersbach, sorbisch Habrachćicy, finde ich problemlos. Es sind zungenbrecherische, fremd und geheimnisvoll klingende Namen, die mir in der Oberlausitz auf Schritt und Tritt begegnen, denn die Lausitz ist zweisprachig. Die Via Regia, die über einen asphaltierten Radweg zwischen Feldern verläuft, führt nördlich des Dorfs im Südosten Sachsen vorbei. Die Grenze zum tschechischen Okres Děčín in Nordböhmen verläuft hier. Ich bin am südöstlichsten Rand Deutschlands.

Ebersbach ist nur ein kleines Dorf, kaum achttausend Menschen leben im Ort, in dem eine von drei Spreequellen entspringt. Der Zusammenfluss der Ebersbacher- und Neugersdorfer Quelle bildet einige hundert Meter die deutsch-tschechische Grenze. Nach fünfhundert Metern auf tschechischem Territorium erreicht das Fließgewässer den Ebersbacher Stadtpark, wo es sich mit der Kottmarer Quelle zur Spree vereinigt. Vom Aussichtsturm auf dem Schlechteberg öffnet sich der Blick bis zum Kottmar im Osten, und weiter aufs Isengebirge bis hinüber ins Zittauer Gebirge. Der Kottmar, 583 Meter über NN, ist ein Berg des Lausitzer Berglands. Zusammen mit dem benachbarten Schlechteberg und dem Löbauer Berg handelt es sich bei den drei Bergen um die Reste eines im Tertiär erloschenen Vulkans. Bei klarem Wetter kann man das Riesengebirge und die Schneekoppe sehen, behauptet jedenfalls ein Spaziergänger am Fuß des Bergs. Ich sehe nichts davon, und frage mich, wann das Wetter noch klarer wird, denn die Sonne scheint und der Himmel ist tiefblau. Südlich von Ebersbach erstrecken sich die tschechischen Ausläufer des Lausitzer Berglands.
Das sprechende Wappen von Ebersbach ist ein Namenwappen, das auf den Namen des Inhabers anspielt oder dieses rebusartig symbolisiert: ein grüner Schildfuß mit goldenem Querfluss, darüber in Gold ein schreitender, schwarzer Eber mit weißen Hauern. Einst stand dieser Eber hinter einem Baum im Wasser, und man erzählt sich, dass früher die Eber aus den naheliegenden Wäldern bis an die Spreequelle kamen. Im 13. Jahrhundert war Ebersbach wahrscheinlich ein von Siedlern gegründetes Waldhufendorf; 1306 erstmals urkundlich belegt. Die Markgrafen Otto und Woldemar von Brandenburg schlossen das Dorf damals an die Stadt Löbau an. Die Hussitenkriege müssen für Ebersbach eine schlimme Zeit gewesen sein, denn noch Jahrzehnte später trug das Dorf den Beinamen Wüstenebersbach. Erst unter der Grundherrschaft der Herren Ernst und Georg von Schleinitz im 16. Jahrhundert erholte sich das Dorf; Landwirtschaft und Handwerk prosperierten, die von den Hussiten zerstörte Kirche wurde wiederaufgebaut. In diesen Jahren kamen die ersten Leineweber nach Ebersbach. Handwerk und Wirtschaft erlebten eine kurze Blütezeit. Schon wenige Jahrzehnte später, im Dreißigjährigen Krieg, wurde das Dorf ein weiteres Mal schwer verwüstet. Erst nach und nach löste sich der Ort vom Schrecken des Krieges, und um 1700 setzte im ganzen Ort eine rege Bautätigkeit ein. Die Webstühle produzierten wieder und Leinwandgroßhandel und Leinenindustrie machten Ebersbach zum drittwichtigsten Industriestandort im Zittauer Raum. Die Gewebe und das Garn der später eröffneten Garnbleiche fanden ihren Weg auf die Via Regia und wurden nach Westen gehandelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm Ebersbach viele Flüchtlinge und Vertriebene aus den Ostgebieten auf, und die Einwohnerzahl stieg auf fast dreizehntausend Bewohner. Nach der Gründung der DDR siedelten sich wieder Betriebe der Textilindustrie im Ort an und völlig neue Wohngebiete in Plattenbauweise entstanden. Wie in anderen ländlichen Gebieten in Ostdeutschland verliert auch die inzwischen wieder strukturschwache Region Ebersbach nach der Wende seine jungen Bewohner an die Städte.

Von all dem, bis auf die beeindruckende Aussicht über das Lausitzer Bergland, ist dem modernen Ebersbach geblieben. Man sieht dem Ort seine einstige Bedeutung nicht mehr an. Mir wird einmal mehr bewusst, dass nichts bleibt, wie es ist. Veränderung ist das einzig beständige in Leben. Das charakteristische Schicksal vieler Orte an der Via Regia, wie ich noch erfahren sollte.
Auf dem Kreisbahnradweg, einer überbauten Trasse, führt die Via Regia zum ehemaligen Bahnhof Königshain-Hochstein. Königshain, sorbisch Kralowski haj, wurde erstmals im Jahr 1298 urkundlich erwähnt. Namengebend soll die Gemahlin eines Böhmischen Königs gewesen sein, die in den benachbarten Wäldern ihre Jagd eingerichtet hatte. Wie Ebersbach wurde auch Königshain während der Hussitenkriege 1492 fast vollständig zerstört. Der Ort beherbergt den ältesten Profanbau der Oberlausitz, den Steinstock, einen massiven zweigeschossigen Bau der ehemaligen Schlossanlage; vermutlich ein Rest eines mittelalterlichen Wohnturmes und Rittersitzes aus der Zeit der deutschen Kolonialisierung um 1200. Zum Königshainer Schloss gehören ein Wasserschloss, das im Dreißigjährigen Krieg schwer beschädigt wurde. 1504 gehörte Königshain der reichen Görlitzer Kaufmannsfamilie Frenzel, die in der Abgeschiedenheit der Königshainer Berge einen adligen Lebensstil pflegte. Hans Frenzel war durch den Tuchhandel zu Reichtum gelangt und legte sein Geld in Grundbesitz an. Das Wasserschloss, das sein Sohn Joachim Frenzel errichtete, ist nur durch eine schmale Gasse vom Steinstock getrennt. Mitte des 18. Jahrhunderts bewohnte der Numismatiker und Naturforscher Carl Adolph Gottlieb von Schachmann sein Erbe, das Wasserschloss, nur kurz. 1762 begann er den weiteren Ausbau der alten Schlossanlage, und gab den Auftrag für ein Barockschloss, eine schlichte Anlehnung an die französische Bauweise vor Ausbruch der Französischen Revolution. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war das Schloss ein Hauptverbandplatz der deutschen Armee, der vom Sanitätsdetachment eingerichtet wurde, als größere Truppenverbände in der Region operierten. Zwei Friedhöfe im Park erinnern an diese schwere Zeit. Während der DDR waren Schloss und Gut Königshain Zentrum eines landwirtschaftlichen Betriebs. Seit dem 18. Jahrhundert wurden die ergiebigen Granitsteinbrüche der Königshainer Berge ausgebeutet, ein wichtiger Erwerbszweig für die ansässige Bevölkerung. Als im Jahr 1905 der Bahnanschluss Königshain-Hochstein der Görlitzer Kreisbahn auf der Strecke von Görlitz nach Weißenberg eröffnete, wurde der Abtransport der Steine wesentlich verbessert. Der letzte Steinbruch schloss erst 1975.
Rechts und links des Wegs wächst eine dichte Hecke, in die vereinzelt Laubbäume integriert sind. Ein grüner Tunnel, der nur gelegentlich Blicke auf den immer dunkler werdenden Himmel und die sich rechts und links ausdehnenden Raps- und Weizenfelder zulässt. Zwischen Ebersbach und Königshain verabschiedet sich die Sonne, die durch die dunkelgraue Bewölkung nur noch zu ahnen ist. Am aufgegebenen Bahnhof Königshain-Liebstein, an der Bahnstrecke Görlitz-Weißenberg, lege ich eine erste Rast ein. Als ich meine Dehnübungen gerade abschließe, kommt eine Frau schnellen Schritts vorbei. Nach den vielen Radwanderern, die mich seit Görlitz überholt haben, endlich jemand, der auch zu Fuß geht. Vielleicht eine Pilgerin? Doch die rüstige Dame mit dem kleinen Stadtrucksack geht so zügig an mir vorbei, dass ich sie nicht ansprechen kann. Als ich endlich wieder auf dem Weg bin, ist sie schon hunderte Meter weit voraus. Lange Zeit sehe ich sie als bunten Fleck zwischen den Feldern gepäcklos allmählich aus meinem Blick entschwinden. Dennoch ist ein gutes Gefühl, nicht der einzige Fußgänger zu sein. Noch zu ungewohnt ist mir der Gedanke, etwas zu tun, das heutzutage nicht mehr viele tun: sich zu Fuß auf einen unbekannten Weg zu machen. Überhaupt zu Fuß zu gehen. Schließlich verliere ich sie ganz aus den Augen und begegne ihr auch nicht mehr. Wieder bin ich allein unterwegs, und denke über Hape Kerkelings mysteriösen Mitpilger nach, mehr Ideal-Ich als Alter Ego.
Am ehemaligen Bahnhof Königshain-Hochstein endet der Radweg. Neben dem Bahnhofsgelände biegt der Weg auf eine Landstraße ab, die steil auf einen Wald zuhält. Zwei Radfahrer, die mir den Berg hinab entgegenrasen, genießen die schnelle Abfahrt, und sicher auch den kühlen Fahrtwind, der mir fehlt. Beständig schwitzend unter der Anstrengung des ungewohnten Gehens, steige ich die Steigung in den Königshainer Forst hinauf, schwitze und schwitze. Mein Hemd, dass ich am Liebsteiner Bahnhof über einem Strauch im Wind getrocknet habe, ist bereits wieder nass.

Zum ersten Mal auf meiner Fußreise komme ich in einen Wald. Ich freue mich auf den Schatten der Bäume und mühe mich die letzten Meter Steigung hinauf. 400 Meter überragt der Hochstein einsam das flache Land. Auf halbem Weg passiere ich eine Hinweistafel, die auf einen der ehemaligen Granitsteinbrüche hinweist, der zu einem Granitmuseum ausgebaut wurde. Heute geschlossen! An einer Kreuzung werde ich unsicher, verstehe nicht, welcher Weg der richtige nach Arnsdorf ist. Ich frage ein junges Paar, aus dem polnischen Görlitz zu Besuch, die auf dem Hochstein spazieren gehen. Er fragt zurück: »Arnsdorf, was ist das denn?« Das hätte mich skeptisch machen müssen, aber nachdem die beiden auf Polnisch miteinander geklärt haben, um was es mir geht, erklärt die junge Frau mir selbstbewusst und sehr überzeugend die falsche Richtung, was ich zu spät bemerke. Immer weiter führt der Weg bergan. Ein schöner Laubwald im Frühjahr, der mich mit frischem Grün empfängt, noch bevor ich weiß, was vor mir liegt. Zwischen den Bäumen sehe ich einen aus mächtigen Steinplatten aufgeschichteten Felsen durch das Dickicht der Äste. Von der Natur ordentlich aufeinander gelegte Steinplatten bilden einen massiven Quader, der an die Externsteine bei Lemgo erinnert: Der Hochstein. Mein Weg endet am Felsen, dem ein ausgestorbener Biergarten zu Füßen liegt. Die Hochsteinbaude: Dienstag geschlossen!
Der Hochstein, nordwestlich der Gemeinde Königshain, ist eine Erhebung in den Königshainer Bergen. Der sorbische Limas in der östlichen Oberlausitz liegt 406 Meter über NN; die zweithöchste Erhebung in der Gegend. Seit 1974 sind die Berge ein Landschaftsschutzgebiet, mit ausgedehnten Vogelrevieren, dem Elysium, Teil eines ehemaligen Firstensteinbruchs. Den Gipfel des Hochsteins bilden einige vom Steinbruchbetrieb verschont gebliebene, freistehende Felstürme aus oberkarbonischem Granit. Sie dienen einer zweiundzwanzig Meter hohen Stahlkonstruktion mit runder Aussichtsplattform als Basis für einen Aussichtsturm.

Der Europäische Fernwanderweg E 10 sowie der Pilgerweg Via Regia kreuzen den Gipfel des Hochsteins. Nur wenig abseits der Via Regia weist eine Markierung auf den Totenstein hin, eine weitere, zehn Meter hohe Felsgruppe. In ur- und frühgeschichtlicher Zeit dienten die Felsen als Kultplatz. Neben hoch- und spätmittelalterlicher Keramik gehören Keramikscherben, Pfeilspitzen und Schmuck aus der Bronze- und Eisenzeit zu den ältesten Funden, von denen Carl Adolph Gottlieb von Schachmann zahlreiche gefunden hat, die dreitausend Jahre alt sind. Kaiser Friedrich Wilhelm IV. hat den Totenstein 1844 als Denkmal der Vorzeit unter Denkmalschutz gestellt.
Ratlos stehe ich vor dem imposanten Naturdenkmal auf dem Hochstein. Noch während ich über den weiteren Weg nachdenke, kommen die nächsten polnischen Touristen den Weg hinauf. Sie sprechen kein Deutsch, aber Englisch, haben aber eine gute Karte dabei, leider keine topographische. Das gemeinsame Kartenstudium macht mich nicht klüger. Alles spricht dafür, dass der Weg hier endet, und sich mein Wanderführer irrt. Ein zweites Mal will ich mich nicht von Ortsunkundigen in die Irre schicken lassen. Auf der Suche nach einem geeigneten Weg abwärts, umrunde ich die geschlossene Hochsteinbaude. Hinter dem Hause finde ich einen schmalen, brauchbaren Pfad, der steiler durch das Waldesdunkel hinabführt, als ich aufgestiegen bin. Schließlich verliert sich der Weg im Gelände, was ihn als modernen Pilgerweg disqualifiziert. Über Stock und Stein klettere ich abwärts, hinunter auf eine frisch gedüngte Wiese, die in der Sonne, die sich wieder durch die Wolken drängt, grün leuchtet. Weiter hinten fahren einzelne Autos auf einer Landstraße durch mein Blickfeld. Ich halte kurz entschlossen einen freundlichen Autofahrer an, der auf dem Weg nach Hause ist. Der schickt mich auf eine windige Landstraße, die von Königshain nach Arnsdorf führt, ein im 12. Jahrhundert von Siedlern aus dem fränkisch-thüringischen Raum gegründetes Waldhufendorf in den sumpfigen Niederungen der Schwarzen Röder. Die Via Regia habe ich nicht wiedergefunden, aber die Richtung stimmt. Parallel zum Pilgerweg gehe ich die fünf Kilometer über eine kaum befahrene Landstraße nach Arnsdorf, wo ich am Kriegerdenkmal die Via Regia wiederfinde. 1912 eröffnete die Königlich-Sächsische Heil- und Pflegeanstalt Arnsdorf ihre Pforten, als eine der größten Sachsens, deren psychiatrisches Personal sich am Euthanasieprogramm des Nationalsozialismus beteiligte. Die Einrichtung diente der Aktion T4, Synonym für die systematische Ermordung von Menschen mit körperlichen, geistigen und psychischen Behinderungen, als Zwischenaufenthalt der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein. Über Arnsdorf wurden über zweihalbtausend Patienten dorthin verlegt und ermordet.
Noch ist früher Nachmittag, und obwohl meine Füße nicht begeistert sind, entschließe ich mich, die wenigen Kilometer über Döbschütz nach Melaune weiterzugehen. Dass ich dabei am Döbschützer Wasserschloss vorbeikomme, auf dem schönsten Pfad des Tages, ahne ich noch nicht. Döbschütz, sorbisch Dobšicy, ein Ortsteil der ostsächsischen Gemeinde Vierkirchen, besitzt nur noch 15 Einwohner. 1959 erfolgte die Eingemeindung nach Melaune mit der Döbschütz 1994 in die neu gegründete Gemeinde Vierkirchen aufgenommen wurde. Das Wasserschloss im Ort gehört zu den ältesten Schlössern der Oberlausitz und ist Stammsitz des oberlausitzen Uradelgeschlechts von Debschitz. Die Stammreihe beginnt mit Christoph von Debschitz († 1496), Gutsherr auf Schadewald und Döbschütz, 1280 erstmals urkundlich erwähnt wird ein gewisser Hugo de Dobswicz. Der Ortsname geht auf das altsorbische Dobešici oder den Eigennamen Dobeš zurück, und enthält das Etymon *dob-¸ gut beziehungsweise günstig. Der erweiterte Rundweiler weist auf eine slawische Siedlung hin, die während der deutschen Ostexpansion im 12. Jahrhundert übernommen wurde. Archäologische Funde zeigen, dass die Siedlung bereits im ausgehenden 9. Jahrhundert angelegt wurde. Seit der Reformation sind Döbschütz und Melaune eine Pfarrei.

Das Wasserschloss liegt auf dem rechten Ufer des Schwarzen Schöps. Wann es erbaut wurde, ist unsicher, aber bekannt ist, dass es bereits im 12. Jahrhundert Vladislav II. Zuflucht bot. Zeichnungen an der Hauswand und eine Küche aus dem 11. Jahrhundert sprechen für diese Annahme. Das sagenumwobene Gebäude war ursprünglich eine Wasserburg, die durch einen Wallgraben geschützt wurde, über den zwei Zugbrücken führten. Die Burg wurde wahrscheinlich im 1. Jahrhundert als slawische Schanze errichtet, die später einem Feuer zum Opfer fiel, denn Reste von verkohltem Holz findet man bis heute in nur dreißig Zentimetern Tiefe. In Kriegszeiten war der Burgberg immer mit Artillerie besetzt, ob bei der Schlacht von Hochkirch oder den Napoleonischen Befreiungskriegen. Das Döbschützer Schloss zählt zu den ältesten Wehranlagen in der Oberlausitz. 1174 soll sich der böhmische König Vladislav II. und seine Gemahlin Jutta auf seiner Flucht hier aufgehalten haben. Schloss und Burgberg waren königlicher Besitz. Um 1218 gehörte es Kunigunde von Staufen, Ehefrau Wenzel I. und Königin von Böhmen. Die Burg war keinem Lehnsträger gegeben worden. Erst danach ging das Wasserschloss an die Familie von Deschitz. Ihr Wappen ziert bis heute den Sturz über der Eingangstür: auf einem Schild das grüne Blatt einer Mummel, darüber ein Helm mit grüner Helmdecke, dem Nacken- und Kopfschutz, und über dem Helm zwei geschlossene, weiße Flügel mit einem kleineren Seerosenblatt.

Nach einer wechselvollen Geschichte kaufte der sächsische Kurfürst 1767 das Anwesen und ließ dort eine Besserungsanstalt für Gefangene einrichten. Ich will gar nicht wissen, wie viel Schrecken und Grausamkeiten in den drei Jahren des Bestehens dieser Institution in die Mauern des Schlosses eingesickert sind. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brannte ein Teil des Schlosses ab, musste umfassend neu gebaut werden und erhielt nun seine endgültige, neugotische Form. Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs an der oberen Turmhälfte wurden nicht mehr restauriert. Das Wasserschloss steht auf der Liste Denkmale des Städtebaus und Architekturensembles. Es gehört seit 2001 der Familie Rößler, die es vollständig saniert und 2003 als Museum eröffnet hat.

Von Döbschütz nach Melaune ist nicht sehr weit. Der kleine Ort liegt um die Ecke an der Schwarzen Schöps. Nur ein Spaziergang entlang des Flüßchens, dessen Wasser einst auch den Graben des Döbschützer Schlosses versorgten. Der Schwarze Schöps besaß einmal einen überaus reichen Fischbestand, sodass Strecken zum Abfischen und Angeln verpachtet wurden. Der Erlös aus diesem Geschäft floss in die Armenkasse der jeweiligen Gemeinde. Fischotter und Biber soll es am Fluss noch geben, auch zahlreiche Wasservögel, unter ihnen den Graureiher und den Fischreiher. Ich gehe auf einem weichen Untergrund nach Melaune, unter den dichten Kronen von Winterlinde, Stieleiche und Schwarzpappel. Nah am Ufer wachsen Weiden und Robelien. Haselnüsse und Brombeerranken, aber auch viele Sumpf- und Wiesenblumen.

Ich kann nicht anders, dem Mann, der mir mit seinem Retriever entgegenkommt, muss ich sagen, welch einen schönen Weg er doch vor der Haustür hat. Und schon entspinnt sich ein spannender Small Talk. Während der Hund um uns herumwuselt, erzählt der Mann mir von Melaune und dem Wasserschloss.
Nachdem der Schwarze Schöps eine Vielzahl von kleinen, wasserreichen Bächen aufgenommen hat, vereinigt er sich mit der Weißen Schöps. Gemeinsam fließen sie in die Spree. Das Flusswasser soll in den letzten Jahren sauberer geworden sein.
An einer aufgegebenen Wassermühle am Schwarzen Schöps beginnt Melaune, ein klassischer Dorfrundling aus slawischer Zeit, der heute noch 380 Einwohner zählt. Urkundlich erwähnt wird das Dorf 1239 als Merowe erstmalig in einer Schenkungsurkunde des Kloster Sankt Marienthal, als Wenzel I., König von Böhmen, dem Kloster den Besitz der Niederdörfer im Görlitzer Kreis bestätigt. Auch Melaune war 1756 von der Schlacht von Hochkirch im Siebenjährigen Krieg betroffen, ebenso vom napoleonischen Krieg zwischen 1801 und 1813 sowie dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866 sowie dem Zweiten Weltkrieg. Jedes Mal hatte der Ort zahlreiche Tote zu beklagen. Ein Massengrab wurde unter dem Kriegerdenkmal gefunden.
Das altsorbische Wort měr gehört dem Wortfeld für Frieden an, den das Dorf im Verlauf seiner Geschichte oft entbehren musste. Jetzt ist Melaune ein friedlicher, in der Abenddämmerung verwunschen wirkender Ort. Schon der Eingang in das Dorf, am späten Nachmittag wie ausgestorben, ist etwas Besonderes, Jenseits der Brücke, die an einer aufgegebenen, aufwändig restaurierten Mühle vorbeiführt, windet sich die Straße eine kleine Steigung empor, die sich schnell zwischen den Häusern verliert. Melaune ist die Mühe und die schmerzenden Füße wert.
Mein Quartier, die Evangelische Jugendscheune Melaune e.V., entstand als ein Zentrum der Kinder- und Jugendarbeit. Ende der 1980er Jahre wurde die Scheune auf dem Pfarrgrundstück der Evangelischen Kirchengemeinde um- und ausgebaut. Es entstand eine Herberge mit 25 Betten und einem Gruppenraum. Im Laufe der Jahre kamen weitere Betten in dem 1911 gebauten Pfarrhaus hinzu. Heutzutage sind Übernachtungen für Gruppen bis 35 Personen möglich, die sich in dem Haus, das auch die Jakobspilger beherbergt, selbst versorgen können. Die Pilger werden im Dachgeschoss einquartiert, drei Treppen hoch. Amüsiert erzähle ich meiner Gastgeberin, dass ich in Görlitz erst gestern in einem Keller übernachtet habe, und schon am zweiten Tag aufgestiegen bin. Die Herberge ist modern saniert, komfortabel und geräumig. Ich kann ein beliebiges Bett in einem der drei Zimmer wählen, denn leider bleibe ich auch heute allein. Erst morgens sind zwei Pilger*innen aufgebrochen, denen ich auf der Spur bin, ohne sie zu kennen.

Durch die Gröditzer Skala

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