Mittwoch, 30. April 2025

Jakobus im Tresor


Das Unmögliche zu wollen, ist die Voraussetzung dafür, das Mögliche zu schaffen.
Karl Liebknecht


Wie ein Zugvogel folge ich dem Schwarm, den die gelbe Muschel mir weist. Gedankenlos und zuversichtlich wie ein Kind, dem Erwachsene den richtigen Weg weisen. Und ihr Weg führt bergauf. Mehr als mir lieb ist, die erste Prüfung des Tages. Die Synchronität von Wanderweg und Lebensweg: einmal hinauf in Euphorie und Glück, ein anderes Mal hinab in Konflikte und Herausforderungen. Das Klack-Klack meiner Stöcke klopft auf asphaltierte Wirtschaftswege; weithin zu hören. Die Vögel schweigen, als ich näherkomme, weit und breit sehe ich weder Menschen noch Tiere. Auch kein gezähmtes Vieh auf der Weide. Das Land breitet sich scheinbar bewegungslos vor mir aus, und ich bin allein mit mir. Gut, dass wenigstens die Insekten geblieben sind, meine treuesten Gefährten.
Jenseits einer Landstraße beginnt der Wald; die Via Regia nach Tauscha. Unvermittelt mündet der Feldweg in einen zugewachsenen grünen Tunnel. Nur wenige Meter einsehbar, verschwindet zwischen den Bäumen und hat mich schnell verschlungen. Ich steige den schmalen, grasbewachsenen Pfad hinab in das grüne Zwielicht, Ein unheimliches Gefühl, das nicht weichen will, beschleicht mich. Irgendetwas, dass sich nicht zeigen will, eine deutlich spürbare Atmosphäre, liegt in der Luft. Archaische, in den Tiefen des Unbewussten lauernde Ängste, die dem Homo sapiens das Überleben sicherten, sind immer noch nur einen Schritt entfernt. Ich spüre kein Adrenalin in den Adern, nur das Gefühl, das es auslöst. Kaum einen Kilometer hinter Königsbrück beginnt das Naturschutzgebiet Lassnitzer Heide, nach der Gröditzer Skala, das zweite Highlight meiner Fußreise. Mehr Wald geht nicht. Dicht an dicht stehen die Bäume eines Laubmischwalds an beiden Seiten des schmalen Wegs, der dicht mit Nadeln und welken Blättern gepolstert ist. Sie versperren meine Sicht und verheimlichen mir ihre Welt. Tolkien, der Baumliebhaber, schuf den mysteriösen Alten Wald mit dem tückischen alten Weidenmann und dem hilfreichen Tom Bombadil, oder den Urwald Fangorn, die Heimat der Ents, der ururalten Baumgärtner, nach dem Vorbild solcher Waldbiotope. Im Wanderer, der sie durchstreift, verdichtet sich der Waldraum zur Atmosphäre des numinosen Mysterium tremendum oder fascinans, dem ambivalenten Schaurig-Schönen, der Furcht und Anziehung. Selbst meine allzeit klappernden Nordic-Walking-Stöcke verstummen vor der grünen Pracht. Der dick gepolsterte Weg verschluckt jeden Laut. Dann ist mein Freund der Kuckuck ist wieder da. Er begrüßt mich enthusiastisch wie einen alten Bekannten, der endlich nach Hause gefunden hat. Viele andere Vögel, deren Stimmen ich nicht zuordnen kann, stimmen ein, und begleiten meine Schritte musikalisch. Plötzlich ziehen am Himmel dunklere Wolken auf, die dem Grün des Waldes das Leuchten entziehen.

Das Licht wird fahler und die numinose Stimmung kippt ins Unergründliche. Die Schwüle des Vormittags fühlt sich dichter an, drückt mir auf die Haut. Das Hemd klebt mir schon längst wieder am Rücken und meine Hose reibt an meinen feuchten Beinen. An einer aufwändigen Schutzhütte, mit geräumigem Vorplatz und Feuerstelle, verfehle ich den Weg. Zwar sehe ich die gelbe Muschel, aber nicht den engen Weg, der unmittelbar an der Hütte vorführt. Spontan und unüberlegt wähle den parallelen Weg in den dichten Wald, und stehe kurz darauf auf einer Wegkreuzung, an der keine Muschel mehr weiterhilft. Ich gehe geradeaus, da es mir logisch scheint, der Richtung zu folgen, die einmal gewiesen ist. Zuerst gibt es noch einen Weg, dann nur noch eine Andeutung, bis er sich hunderte Meter weiter im Wald zwischen wucherndem Hirschzungenfarn und wahllos verstreuten Ästen auflöst. Zwischen den Bäumen sehe ich nichts, was ein Weg ist. Ich kehre um, gehe zurück an die Wegkreuzung und frage den Kompass nach der Richtung. Die Via Regia verläuft West oder Südwest. Meine Peilung weist zurück zur Schutzhütte. Ich bin irritiert, weiß nicht, was falsch gelaufen ist. Alle Bäume im Umkreis bleiben stumm. Keiner von ihnen trägt die gelbe Muschel oder einen Pfeil. Nichts. Nirgendwo finde ich eine Markierung des Jakobswegs. Die ersten Regentropfen fallen. Im leichten Sprühregen suche ich mit Karte und Kompass die Richtung. Ich fühle mich nicht bereit, im Regen mitten durch den Wald zu laufen, gebe auf und kehre zur Schutzhütte zurück, zur letzten Muschel. Mittlerweile hat der Himmel seine Schleusen geöffnet. Es gießt in Strömen und die Rinnen und Schlaglöcher des Waldwegs füllen sich mit frischem Wasser, in die der Regen in hunderten Fontänen aufspritzt. Ich flüchte unter das Dach der Schutzhütte, deren schmuddeliges Innere jede Romantik tötet, sichere mein Gepäck und denke über eine Lösung nach. Im Halbdunkel, unter dem Dach der Hütte, bringt ein zweiter Versuch mit dem Kompass das gleiche Ergebnis. Inzwischen hat es aufgehört zu regnen, und ich entscheide mich, ratlos und desorientiert, für den breiten Schotterweg, der an der Hütte vorbeiführt. Irgendwo werde ich auf eine Landstraße oder Ortschaft treffen, und mich besser orientieren können. Zwei Radfahrer, Vater und Sohn, kommen auf mich zu. Ich stoppe die beiden, die mir den zugewachsenen Weg neben der Hütte zeigen, die Via Regia, um die ich die ganze Zeit herumgegangen bin.

Erleichtert packe ich zusammen und verschwinde wieder im Wald, der mich vertraut empfängt. Es tröpfelt von den Blättern, versucht zu regnen, doch ich bleibe leidlich trocken. Die wenigen Tropfen lohnen keinen Poncho. Mein Hemd ist trotzdem nass, vom Schweiß, der Aufregung und vom unnötigen Stress. Im deutschen Wald geht niemand verloren. Noch bin ich ein Greenhorn und weiß vieles nicht. Der Wald endet abrupt an einem großen Hühnermastbetrieb, die Farm Tauscha. Auf der Firmentafel heißt das: Hühnerzucht. Ich kann mir allzu gut vorstellen, was hinter den Mauern der hermetisch verschlossenen, fensterlosen Gebäude vor sich geht, und wünsche den Tierquälern ein weiteres Mal die Pest an den Hals. Ich kann es nicht mehr ertragen, dass tausende Tiere einer absurden Idee wegen qualvoll zu Tode gefoltert, geschändet und gequält werden, damit der gleichgültige Konsument sein »täglich Fleisch« auf den Tisch bekommt.

Über eine Landstraße biegt der Weg nach Tauscha in einen Feldweg ein, der nach ein paar hundert Metern am ersten Haus des Orts endet. Auf dem Weg zur Kirche komme ich mit einem korpulenten Radfahrer ins Gespräch, der über die acht Kilometer stöhnt, die er von Königsbrück gefahren ist. Nach dem üblichen Woher! und Wohin! das überall auf der Welt dazu dient, sich den Fremden vertraut zu machen, erzählt er mir von gestohlener Kirchenkunst, für die er Stasi verantwortlich macht. Ich gebe ihm eine Erzählung zurück, und berichte ihm von Berlins Urbanität. Wir lieben beide das Exotische. Der Ort scheint menschenleer, wie so oft in der ostdeutschen Provinz. Siesta hält man nicht nur in Spanien.
Das Besondere an Tauscha ist eine mittelalterliche Jakobusstatue, die mittlerweile wieder, nachdem sie jahrzehntelang in einem Tresor aufbewahrt wurde, ihren angestammten Platz in der Tauschaer Kirche eingenommen hat. Sie bildet das spirituelle Zentrum des evangelischen Kirchspiels, das die Kirchen von Sacka, Tauscha, Dobra und Würschnitz umfasst, und »Jakobuskirchspiel« genannt wird. Ich bin zu neugierig, um einfach weiterzugehen. Ich habe erst einen frühmittelalterlichen Jakobus in Deutschland gesehen, der so viele Jahrhunderte überdauert hat. Ich begegnete ihm in Sankt Stephan, der Kirche in Tangermünde, wo der Brandenburgische Jakobsweg in den Sachsen-anhaltinischen Jakobsweg mündet.

In einer Nische, unauffällig und abseits des touristischen Treibens im Kirchenschiff, steht dort ein hölzerner Jakobus auf einem Sockel, dessen Basis sein Symbol, die Jakobsmuschel, ziert. Die dreischiffige Hallenkirche in Tangermünde, im Stil der norddeutschen Backsteingotik, geht auf einen romanischen Vorgängerbau zurück, doch der Jakobus in der Nische ist eine gotische Skulptur, die auf 1430 datiert wird. Ich spüre etwas Besonderes in diesen alten, tief in ihrer Tradition verwurzelten Objekten, die von einer Aura von Erinnerung umgeben sind, der ich mich nicht entziehen kann. Dass ich in Tauscha, diesem kleinen, provinziellen Dorf in Ostdeutschland, noch einmal einer Jakobusstatue begegnen werde, damit habe ich nicht gerechnet.
Doch die Kirche ist verschlossen, und geschlossen ist auch der Dorfladen, wo es den Schlüssel geben soll. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich im Ort umzusehen, gehe zwischen den Häusern umher und um den zentralen Dorfteich herum, in der Hoffnung, jemanden zu treffen, der mir die Kirche aufschließt. Denn ohne den Jakobus zu sehen, werde ich nicht weitergehen. Eine Frau aus der Kirchengemeinde, die ich am Dorfteich treffe, schließt mir die gut gesicherte Tür der kleinen Kirche auf. Auf dem Altar ein Kruzifix mit dem gekreuzigten Jesus aus Meißener Porzellan - weiß poliert und glänzend, mit goldenem Lendentuch, Dahinter Golgathaatmosphäre in düsteren Farben ausgeführt. Statt einer Orgel, was die Frau bedauert, ein Piano auf der Empore. Ich bin enttäuscht. Kein Jakobus, stattdessen ein leerer, steinerner Sockel mit einem Zapfloch. Mein erster Gedanke, die Statue ist wieder im Tresor, vielleicht beim Restaurator, mein Warten vergebens. Doch als ich frage, beruhigt mich die Frau, und führt mich vor eine verschlossene Glastür seitlich des Altars.

Die Glastür zu öffnen ist nicht erlaubt. In einem schmalen Kämmerchen, kaum mehr als eine Vitrine, steht der hölzerne Jakobus, eine gut einen Meter große Figur mit dem obligatorischen Hut mit Muschel, der Pelerine des Pilgers, Tasche und Kalebasse. Und, wie in Tangermünde, ohne Wanderstab. Ein Zwilling des Jakobus aus Tangermünde, gotisch, und ins 15. Jahrhundert datiert, älter als die Kirche selbst, die erst 1650 gebaut wurde.
Jakobus, der Ältere, einer der zwölf Jünger, Schutzpatron der Pilger. Nicht nur Santiago de Compostela liegt an einem Pilgerweg, auch Tauscha und Tangermünde, und beide besitzen eine mittelalterliche Jakobusstatue. Allein dieser Umstand bezeugt die ehemalige religiös-historische Bedeutung dieser Orte. Doch wie groß ist der Unterschied zu den Jakobusskulpturen an den spanischen Caminos de Santiago. Im protestantischen Mitteldeutschland ist Jakobus ein Ausgestoßener, der ein gerade noch geduldetes Exil gefunden hat. Deplatziert in eine Nische am Rand, eingesperrt in eine Kammer hinter Glas. Fremd in einem kalten Land, in das es ihn auf welchen Wegen auch immer verschlagen hat. Kaum ein Hauch der prächtigen spanischen Jakobusskulpturen. Eine bescheidene Statue für eine Berühmtheit, aus braunem Holz ohne jede Verzierung. Die einen seit Jahrhunderten öffentlich ausgestellt, die goldüberzogen und glänzend auf ihre Verehrer herabschauen, die andere lange in einem Tresor versteckt, jetzt wieder zu sehen, doch museal hinter Glas. In Tauscha residiert Jakobus nicht auf dem Sternenfeld.

Die Heiligenlegende berichtet, dass der Apostel aufbrach, um die iberische Halbinsel zu missionieren, was ihm aber nicht gelang. Als er 44 nach Palästina zurückkehrte, wurde er von Herodes Agrippa gefangengenommen, gefoltert und getötet. Der König verbot, ihn zu begraben. In der Nacht stahlen Jakobs Schüler den Leichnam des Apostels, der vor der Stadtmauer von Jerusalem den Hunden zum Fraß vorgeworfen worden war, und brachten ihn in einem Marmorsarkophag an Bord eines kleinen Bootes, das sie aufs Meer hinaustreiben ließen. Die Meeresströmung trieb das Boot ins spanische Galicien, in die Nähe der römischen Provinzhauptstadt Iria Flavia, dem heutigen Padròn, wo man den Apostel heimlich in einem nahegelegenen Wäldchen bestattete. 813 hatte der Eremit Pelagius in jenem Wald eine Erscheinung: er sah ein seltsames Leuchten und hörte Gesänge. Auf Grund des Leuchtens nannte man den Platz campus stellae - Sternenfeld - ein Name, den die Bevölkerung später in Compostela umwandeln sollte. Bischof Teodomiro, der von dem Ereignis erfuhr, leitete eine Untersuchung ein, in deren Folge das Grab des Apostels entdeckt wurde. Zu Beginn der Reconquista erklärte Alfonso II. den Apostel zum Patron seines Reiches, und ließ an der Stelle des Grabmals eine Kapelle errichten. Damit legte er den Grundstein der modernen Kathedrale in Santiago de Compostela und der Jakobuspilgerfahrt, denn Alfonso II. El Castro, der Reine, war der erste Pilger, der den modernen Camino Primitivo von Uviéu (heute Oviedo) in Asturien aufs Sternenfeld nach Galicia pilgerte.

Der Name der Stadt Santiago leitet sich vom Namen des Apostels ab: Sant Iago, Heiliger Jakob. Wundersame Ereignisse häuften sich seitdem um diesen Ort. Eine Legende erzählt, dass der Apostel Ramiro I., der den asturischen Thron nach dem kinderlosen Alfonso II. übernahm, in der historisch umstrittenen Schlacht von Clavijo gegen die Mauren zur Seite stand; die legendäre Geburt von Santiago Matamoros, Jakobus dem Maurentöter.

Immer mehr Pilger machten sich im 10. Jahrhundert auf den Jakobsweg nach Santiago. Papst Calixto II. legte fest, dass jenen, die in einem Heiligen Jahr, wenn der 25. Mai, der Namenstag des Jakobus auf einen Sonntag fällt, nach Santiago pilgern, alle Sünden erlassen werden. Papst Alexander III. erklärte Santiago, gleichberechtigt neben Jerusalem und Rom, zur Heiligen Stadt. Aus der ursprünglichen Kapelle wurde die moderne Kathedrale der neu entstandenen Siedlung Santiago de Compostela, die im 12. und 13. Jahrhundert ihre größte Bedeutung erreichte. Auch meine Führerin durch die Kirche erzählt mir vom Kunstraub der Stasi, und ich verstehe, warum der Jakobus von Tauscha, wie die gotische Madonna von Barsikow, verborgen wurden. Der Jakobus von Tauscha verschwand über 30 Jahre in einem Tresor der Großenhainer Kirche und ist erst seit 2012 wieder in Tauscha zu sehen. Eine Vermutung nur, sagt sie, nicht Genaues ist bekannt. Sie weist auf drei Haken neben der Tür. Dort hing bis in die 1970er Jahre die Jakobusstatue neben zwei hölzernen Marien, die sie mir auf einer Fotokopie zeigt, und von denen sie weder Herkunft oder Stil nennen kann. Beide wurden im September 1977 gestohlen, zur Zeit einer Messe in Leipzig, zusammen mit einem Porzellan-Jesus. Diesen habe der Meißener Modelleur Johann Joachim Kändler im 18. Jahrhundert entworfen und gefertigt. Er war es auch, der den Ruhm der Meißner Manufaktur begründete, indem er in technischer und ästhetischer Hinsicht vollendete Porzellanplastiken schuf. Seine Werke, besonders seine Kleinfigurenszenen in Form von Aufzügen und Maskeraden, zeichnen sich durch eleganten Schwung und leichte Anmut aus; vollkommenster Ausdruck des Rokokos. Inspiriert von der damals populären Theaterform der Commedia dell’arte schuf er mit seinen Mitarbeitern ganze Gruppen kleiner Accessoires und Figürchen, welche die Schäferromantik des Rokokos thematisierten. Seine Hommagen an das aufklärerische Ideal des freien und vernünftigen Menschen trafen den Zeitgeist, ein zeitloses Meisterwerk europäischer Porzellankunst, das die Porzellanherstellung der Meißener Manufaktur nachhaltig veränderte. Das ursprüngliche Modell von Kändlers Porzellanfigur des Jesus, erzählt mir die freundliche Dame zuletzt, wurde glücklicherweise in Meißen aufbewahrt, sodass die Skulptur vor einigen Jahren ersetzt werden konnte. Niemand ahnte in den säkularen Zeiten der DDR-Regierung, schließt sie ihren Bericht, welche Kunstwerke die Kirche beherbergte, sodass der Raub leichtgefallen sein muss. Rationalität und Materialismus haben in der Wahrnehmung göttlicher Atmosphären tiefe Wunden geschlagen. Vielleicht hat man damals diese Kirchenkunst nicht als künstlerische Ausdrucksweisen des Über-Natürlichen gesehen, sondern sie als alten, nutzlosen Tand betrachtet. Doch jemand wusste vom Wert dieser Figuren. Warum der Jakobus zurückblieb, ist verwunderlich. Der amtierende Pfarrer, auch das wusste die kundige Frau zu erzählen, ist noch immer engagiert und bemüht, den Verbleib der beiden hölzernen Marienskulpturen aufzuspüren. Er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, die beiden Marien wiederzufinden.
Ich verabschiede mich von meiner Führerin durch Tauchas Kirchengeschichte und gehe hinüber zur Pilgerherberge Zum Heidebogen, die mich gestern nicht aufnehmen wollte, und die auch keine Pilgerherberge ist. Im Stillen habe ich dem Besitzer gedankt. Der Weg durch die Lassnitzer Heide gestern wäre mehr Anstrengung als Genuss gewesen. Am Tor der Pension hat er ein Schild aufgehängt: Wassertankstelle. Im Hof der Herberge Wild-West-Romantik. Ich nutze die Gelegenheit, gehe über den Hof, und fülle meine Wasserflasche. Ein großes Glas Mineralwasser bekomme gratis: Pilgerservice! Ob ich im Wald zwei »alte Pilger« gesehen habe? Der Hotelier vermisst zwei seiner Verwandten.

Gehen auf Asphalt ist immer anstrengend. Es ist heiß, schwül und drückend. Kilometer um Kilometer gehe ich durch schattenlose Felder. Bauern auf Traktoren mähen kniehoch stehendes Gras. Über ihnen kreisen Bussarde, wohl in der Hoffnung, die Mäharbeit scheuche Beute für sie auf. Ein Bild wie auf hoher See, wenn Fischer die Netze einholen, und über ihnen kreischend die Möwen schwärmen. Störche staken majestätisch und hoffnungsvoll hinter einem Traktor her. Sie inszenieren ihren Beutegang elegant und gelassen; vornehmer als die hektischen Raubvögel.
Ich komme durch Lötzschen - immer noch Asphalt - ein abgelegenes Dorf mit rassistischer Propaganda im Vorgarten. Was bewegt Menschen in einem friedlichen, ruhigen Dorf dazu, wahrscheinlich ohne Ausländer, solche Ängste zu entwickeln?

Wie isoliert und weit entfernt vom politischen Alltag muss man leben, bis man seine Angst verliert? Gartenzwerge und reaktionäre Schrebergartenromantik sind schlimm genug. Neben einer Frau in schwarzer Burka und der Überschrift Bademoden 2018, hängt ein noch schlimmerer Text: Ich erwarte Respekt gegenüber meiner Kultur, meiner Sprache, meinem Land und meiner Familie!!! Danach können wir mal über Toleranz sprechen …!!! Doch davor schlage ich dich tot. Habe nur ich solche Assoziationen? Ist das mit den drei Pünktchen gemeint …? Ich hoffe nicht, dass solche Installationen die moderne Form des Gartenzwergs sind. Ich muss fort aus Lötzschen, laufe schon fast die Landstraße hoch, schwitzend, die Sonne frontal im Gesicht. Obwohl ich um diese Dinge weiß, hat mich dieser Vorgarten doch tief verstört.

An Thiendorf vorbei, unter der Autobahn Berlin - Dresden hindurch. Am Himmel türmen sich Cumuluswolken zu fantastischen Gebilden. Ich brauche eine Rast, lehne meinen Rucksack an einen Baum, mich an den Rucksack und das Surren und Rauschen der Autobahn wiegt mich in den Schlaf. Schon auf der Schwelle zum Traum frage ich mich noch: Was hat mich so erschöpft?
Heiß und schattenlos geht es später durch Felder auf Schönfeld zu, meinem Etappenziel. Viel weiter schaffe ich es heute nicht. Ein kurzes Stück steigt mein Weg noch unter Bäumen an, kaum Wald zu nennen, hoch hinauf, die lärmende Landstraße zur Seite. Endlich Schatten, und ich werde von Fliegen bedrängt, die mein Schweiß angelockt hat, den sie gierig aufsaugen. Auf dem Weg liegt eine Blindschleiche. Ich denke sie ist tot, doch als ich sie nur leicht berühre, schlängelt sie sich unaufgeregt ins Gestrüpp. Kaum vorzustellen, dass es ihr zu warm ist? Die Landstraße ist stark frequentiert. Sie führt unmittelbar hinein nach Schönfeld, auf eine schnurgerade, breite Hauptstraße durch das Dorf. Schönfeld ist ein Straßendorf. Vorbei am Schloss, jetzt Altenresidenz, Adresse der Jugend, entlang an Häusern, die wie Perlen an der Schnur die Straße flankieren. Ich finde ihn schnell, den Hinterhof, am anderen Ende des Dorfs; mein Quartier für heute Nacht. Eine freundliche, ältere Dame hat eins ihrer Zimmer für Pilger reserviert, und wieder einmal fühle ich mich zurückversetzt in die 1950er Jahre meiner Kindheit.

Der Weg wächst im Gehen

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