Was ich erlebt habe, kann mir niemand nehmen. Ein tief in mir verborgener Schatz, der zu leuchten beginnt, wenn ich die Augen schließe.
Ich habe meine Fußreise noch nicht begonnen, und schon läuft mir der Schweiß den Rücken hinab. Als ich die U-Bahn am Südstern erreiche, weiß ich, dass mein Rucksack zu schwer ist. Ich habe lange überlegt, was ich wirklich brauche. In den letzten Tagen habe ich aussortiert und wieder eingepackt, und zuletzt die Entscheidung für zu viel getroffen. Während ich zum Südstern gehe, fällt mir nichts ein, was ich wieder auspacken kann. Einfachheit und Bescheidenheit zu wollen, heißt nicht zugleich, sie auch leben zu können. Idealisierung ist leicht, mit den Konsequenzen zu leben, etwas völlig anderes. Wieder ist mir mein Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle in den Rücken gefallen. Eine Fußreise ist alles andere als überschaubar oder planbar. Loslassen eine Kunst, die sich gegen meine eingeübten Gewohnheiten und alltäglichen Routinen zur Wehr setzt. Während ich in den U-Bahnschacht hinabsteige, kommt mir ein Satz von Nelly Sachs in den Sinn - Alles beginnt mit der Sehnsucht - den mir ein Arbeitskollege einst zum Geburtstag schenkte. Weil er zu mir passt, habe ich ihn nie vergessen. In der überfüllten U-Bahn tropft mir der Schweiß von der Stirn. Gleich zu Beginn überfällt mich die Unsicherheit vor einer Reise, wie ich noch keine unternommen habe: Allein durch unbekanntes Gebiet zu wandern, eine Gegend in Deutschland, mehr oder weniger dicht besiedelt und strukturiert, und mir trotzdem völlig fremd ist. Lampenfieber, beruhige ich mich, das Gefühl des Unvorhersehbaren. Vorfreude, die schönste Form des Wartens. Durch meine Aufregung komme ich viel zu früh am ZOB an. Trotz der morgendlichen Stunde herrscht zwischen den Bussen bereits reges Leben. Der Bus nach Görlitz ist fast leer. Nur fünf Fahrgäste und kein Geschäft für den Postbus. Für mich eine angenehme, vierstündige Reise.
Ein Jahr später. Ich bin wieder in Görlitz, am linken Ufer der Lausitzer Neiße, unmittelbar an der polnischen Grenze; polnisch Zgorzelec, obersorbisch Zhorjelc. Es ist warm in der Stadt, die Sonne fast in der Himmelmitte. Ich suche mir den Weg vom Bahnhof in die Stadt; vom echten Görlitzer Bahnhof; dem der Berliner Görli seinen Namen verdankt. Der ungewohnte Rucksack drückt schwer auf Schultern und Füßen. Nach ein paar hundert Metern murren die Beinmuskeln und ich schwitze schon wieder. Die Berliner Straße führt vom Bahnhof hinunter ins Zentrum. Die Terrasse des Café Schwerdtner, eine ostdeutsche Kette in der Innenstadt, kommt mir ein zweites Mal gelegen. Im letzten Jahr musste ich hier auf einen Freund warten, den ein Unwetter im Emsland festhielt; dieses Mal ohne mein Fahrrad, auf Schusters Rappen. Ein Eis-Orange-Drink kühlt mich auf angenehme Temperatur herab, ein nachgeschobener Cappuccino besiegt den Spannungskopfschmerz. Die letzte Nacht war viel zu kurz. Aber ich fühle mich zuhause in Görlitz, komme mir vor, wie ein alter Bekannter, der einmal kurz vorbeischaut.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde Görlitz entlang der Neiße in ein deutsches und in ein polnisches Stadtgebiet geteilt. Der östlich der Neiße gelegene Stadtteil geriet unter polnische Verwaltung, die dort ansässige deutsche Bevölkerung wurde im Juni 1945 vertrieben. In den Jahren des Kalten Kriegs entstand das eigenständige Zgorzelec. Die Unterzeichnung des Görlitzer Abkommens zwischen der DDR und Polen im Juli 1950 führte zur völkerrechtlichen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze. 1990 wurde diese Grenze auch von der Kohl-Regierung völkerrechtlich anerkannt. Heute verstehen sich Görlitz und Zgorzelec als Schwesterstädte, die sich 2010 gemeinsam als Europastadt bewarben. Görlitz ist Kreisstadt im Landkreis, die größte Stadt der Oberlausitz. 54 193 Einwohner zählt der Zensus 2014.
Archäologische Funde belegen eine Besiedlung seit dem späten Neolithikum, als die schnurkeramischen Kulturen bis an die Neiße reichten. Die Lausitzer Kultur hinterließ Brandbestattungen, die römische Kaiserzeit Kupfer- und Bronzemünzen im Stadtgebiet. Die unruhigen Jahrzehnte der Völkerwanderung nutzten slawische Ethnien, um das von Germanen geräumte Gebiet zu besiedeln. Im Mittelalter entwickelte sich in Görlitz eine Färbeindustrie, die auf dem blauen Farbstoff der Waidpflanze basierte. Die Monopolstellung des Waidhandels und die Handelsprivilegien durch die wirtschaftlichen Interessen böhmischer und oberlausitzer Herrscher sicherten der Stadt an der Via Regia und dem Flussübergang lange Zeit die Position einer florierenden Handelsstadt zwischen Erfurt und Breslau. Blau war einst die Farbe der Götter und Könige, und so kostbar, dass der Farbstoff, der aus dem Färberwaid gewonnen und über die Via Regia gehandelt wurde, mit Gold aufzuwiegen war. In Mitteleuropa gelangte der blaue Farbstoff des Waids im 12. Jahrhundert über die Kirchenmalerei in die Textilproduktion, und wurde erst im 16. Jahrhundert durch das Blau des Indigostrauchs abgelöst. Durch einen Zufall kreierte der Maler Johann Jakob Diesbach um 1700 das Preußischblau als Farbe für die preußischen Uniformen. Unter preußischer Herrschaft erlebte Görlitz seit dem 17. Jahrhundert den Beginn der Industrialisierung mit öffentlichen Bauprojekten, Industrieanlagen und neuen Arbeiterwohnsiedlungen. Im wiedergegründeten Freistaat Sachsen war Görlitz zuerst eine kreisfreie Stadt im Regierungsbezirk Dresden, verlor diesen Status 2008 wieder, als sie den Titel Große Kreisstadt erwarb. Görlitz ist eine moderne Stadt, die DDR scheint es nie gegeben zu haben. Die historische Altstadt ist sorgfältig saniert und restauriert, eine Museumsmeile der unterschiedlichsten architektonischen Stile: Renaissance, Gotik, Barock und Jugendstil. Görlitz´ Altstadt bietet dem Auge eine bunte historische Mischung, eine Augenweide, ein Museum. Ein Refugium für Flaneure, deren Kamera nicht zur Ruhe kommt. Überall Shops für Touristen, die kitschige Souvenirs und informative Literatur anbieten; dazwischen Cafés und Restaurants. Einheimische verirren sich am Tage kaum hierher. Mein Blick irrt hilflos über die Häuserfronten in einem Meer der Stile. Am Marienplatz ein Jugendstilkaufhaus mit düsteren Arkaden unter denen es die Passanten eilig haben. 4000 Häuser stehen in Görlitz unter Denkmalschutz, erzählt mir eine junge Mutter, die nebenbei ihrem Kind einen Löffel Eis nach dem anderen in den Mund schiebt. Die Kleine schwelgt mit verzücktem Blick im Paradies der süßen Säfte. Ich streife durch die kopfsteingepflasterten Gassen, über weite Plätze und bestaune die frisch geputzte, aufgeräumte Stadt. Der Zweite Weltkrieg hat Görlitz von Zerstörungen fast völlig verschont. Vierzig Jahre DDR haben den ehrwürdigen Gebäuden nichts gegönnt. Jetzt wird das historische Stadtbild laufend restauriert und denkmalpflegerisch betreut. Die kulturellen Traditionen und ihre Baudenkmäler in der Stadt bieten dem Besucher das größte zusammenhängende Flächendenkmal Deutschlands. Zahlreiche spätgotische, Renaissance- und Barockgebäude in der Altstadt sowie die Häuser des Gründerzeitviertels rund um das historische Zentrum prägen das innerstädtische Bild. Görlitz ist eine Stadt fürs Objektiv.
Im Haus der Begegnung der methodistischen Gemeinde bereiten mir die Herbergseltern ein freundlich-distanziertes Willkommen. Dann geht es hinab in den zur Herberge ausgebauten Keller. Angenehm empfängt mich die Kühle des Gewölbes. Ein großer Raum mit hohen Souterrainfenstern und acht Feldbetten. Irgendwo am Ende eines Flurs der Waschraum mit Dusche. Außer mir ist kein anderer Gast angemeldet, erklärt mir die Herbergsmutter. Ich habe die Herberge für mich allein, kann mich ausbreiten und mein Gepäck noch einmal neu zu sortieren. Schnell erhole mich in dem kühlen Schlafsaal von den heißen Stunden, die mir so anstrengend vorgekommen sind.
Ein Nachmittag in der Stadt; nicht im Gedränge der historischen Altstadt wie vor einem Jahr. Viele Touristen sind noch nicht eingetroffen. Vorsaison! So sehr mich die Architektur der Stadt beeindruckt, werden mir die in allen Gassen bummelnden Touristen schnell lästig. Ich bin Berlin entflohen, will Natur und Natürlichkeit, um mich erleben, kein weiteres urbanes Gewimmel, so überraschend ungewöhnlich mir Görlitz erscheint. Die schmale Straße hinab an die Neiße ist dieselbe Baustelle geblieben. Zwischen den Absperrungen hat sich scheinbar nichts getan. Noch immer breitet sich ein rot-weiß eingezäuntes Sandbett statt einer begehbaren Straße aus. Am Neißeufer führt eine breite Brücke hinüber aufs polnische Ufer. Ein bemalter Turm mitten auf der Brücke. Ein buntes Clownsgesicht lächelt aus der Höhe auf mich und die zahlreichen Touristen herab, die von der Brücke die Wasser der Neiße bestaunen. Unter mir die Neiße, die noch immer Grenzfluss ist. Viel Wasser führt sie nicht, hier und da ragen Steine aus ihrem Bett, hier da ein Schwall, unsichtbarem Geröll, dass das Wasser aufwühlt.
Hoch über dem Fluss, auf einem Hügel gelegen, streckt die Peterskirche ihr kupfergedecktes Dach und ihre schlanken, nadelspitzen weißen Türme in den Himmel. Ein in die Jahre gekommener Sky-Scraper, in weißem Kleid, dessen Anblick mich an den Bau der Kathedrale in Ken Folletts Die Säulen der Erde erinnert. Im mittelalterlichen England des 12. Jahrhunderts angesiedelt, erzählt der historische Roman die Geschichte des Baus der gotischen Kathedrale von Salisbury. Die Türme des Doms in Görlitz stechen in stummer Steinmetzarbeit spitz in den Himmel. Die Pfarrkirche Sankt Peter und Paul in Görlitz ist eine Sehenswürdigkeit, gleichgültig, ob man religiös ist oder nicht. Die Kirche Sankt Peter und Paul in Görlitz ist eine Sehenswürdigkeit, gleichgültig, ob man religiös ist oder nicht. Die markante Silhouette ihre Doppeltürme über dem Fluss prägen das Stadtbild wie kein anderes Bauwerk. Sie ist nicht nur der geografische, sondern auch der symbolische Mittelpunkt der Altstadt.
Um 1230 entsteht eine frühgotische Kirche auf dem heutigen Standort. Görlitz war zu dieser Zeit eine aufstrebende Handelsstadt an der Via Regia. Einer Legende zufolge soll beim Guss einer der großen Glocken ein Kind in die flüssige Glockenspeise gefallen sein, ein tragisches Menschenopfer, das die Glocke besonders klangvoll gemacht haben soll. Die Legende erinnert an mittelalterliche Vorstellungen vom lebenden Klang und rührt an den sakralen Ernst alter Handwerkskunst. Zweihundert Jahre später war die Stadt so gewachsen, dass der gotische Bau begonnen wurde, der über Jahrhunderte bis zu ihrer heutigen Form erweitert wurde. Ende des 17. Jahrhunderts zerstörte ein Feuersturm die Kirche, den nur Chor und Sakristei überstanden. Man erzählt sich, die Görlitzer beteten, während das Feuer wütete, in ihrer Kirche, und versprachen, den Wiederaufbau.
Ich bin neugierig auf die Sankt Peter und Paul, die in Görlitz nur die Peterskirche heißt. Der heutige Bau, eine fünfschiffige, spätgotische Hallenkirche, gehört zu den größten in Sachsen. Besonders neugierig bin ich auf die beeindruckende Sonnenorgel, die der kaiserliche Orgelbauer aus Wien, Eugenio Casparini zwischen 1703 und 1706 mit sechzehn kunstvoll geschnitzten Sonnen geschmückt hat, die den Orgelprospekt zieren. Vier der Sonnen sind stumm, zwölf davon klingen. Die Sonnen bilden das Neben- und Effektregister dieser Orgel. Vierzig Minuten dauert die Vorstellung der Orgel für das staunende Publikum. Ihr Klang muss einzigartig sein: hell, durchdringend, fast sphärisch. Mancher sagt, sie klinge „wie ein Licht, das man hören kann“. Gerne würde ich sie spielen hören, aber eine Gelegenheit gab es nicht für mich. In einer Ecke unter der Orgelempore sind Fragmente der Klaviatur und Register der Sonnenorgel ausgestellt. In einer benachbarten Vitrine wird eine Sonne aufbewahrt, deren Strahlen Orgelpfeifen sind, und die dem Instrument den Namen gegeben hat.
Am Portal der Kirche sitzt eine Frau hinter einem Tisch mit Devotionalien. Einst soll, erzählt sie, der böhmische Herzog Sobĕslav I. im Bereich der Peterskirche zwischen 1126 und 1131 die Burg Yzcorelik errichtet haben, um zusammen mit den Burgen Přimda, Tachov und Glatz die Grenze zur Oberlausitz zu sichern.
Die Statuen der beiden Titularheilgen haben am Ende des Zweiten Weltkriegs die polnischen Besatzer gestohlen. Sie wurden, wie so vieles andere, dass bis heute verschwunden ist, zur Beutekunst. Werden sie je wieder auf ihr vereinsamtes Podest im Eingangsbereich zurückkehren? Kein Ersatz, keine Kopie, kein Gipsabdruck, steinern, ungefüllt, wie offen gelassene Sätze. Der ein oder andere Besucher wird ihr Fehlen nicht bemerken. Doch der Verlust der Figuren von Petrus und Paulus ist mehr als eine kunsthistorische Lücke. Sie betrifft die Identität der Kirche, die ihre Patrone nur noch im Namen bewahrt. Die Leere selbst ist zum Denkmal geworden, für das, was einmal war, und für das, was nicht einfach zu ersetzen ist. Ich denke, gerade ihre Abwesenheit symbolisiert das Wesentlichste des 20. Jahrhunderts: Heilige verstummen, ihre Orte bleiben leer. Es ist wichtig, diese Lücke nicht zu übersehen, sondern sie zu füllen. Die Statuen werden als Beutekunst im Nationalmuseum in Warschau aufbewahrt. Nicht nur Papier ist geduldig. Die leeren Podeste warten auf ihre Rückkehr, ihre Befreiung.
Die Wände des Seitenschiffs bevölkern
Portraits von Pfarrern des 17. und 18. Jahrhunderts. Strenge Blicke, hoch geschnürt in atembeklemmenden Halskrausen und schwarzen Soutanen, protestantisch düster, lebensfeindlich, Männer, die eine unglückliche Aura ausstrahlen, schauen mich ermahnend an, obwohl sie von mir nicht das Geringste wissen. Ich kenne diesen Blick aus meiner katholischen Kindheit, der sagt: Wehe, du wagst zu leben! Ich wundere mich nicht zum ersten Mal, dass man solchen Männern einst die Frohe Botschaft abnahm?
Die Stille in der Kirche entspannt mich von den kleinen Sorgen des Tages. Das Gewicht des Rucksacks und der Smartphone-Aku, der plötzlich schwächelt, verlieren in der beeindruckenden Weite dieser Halle an Wichtigkeit. Die Kühle der Mauern hält die Hitze draußen. Ich sitze auf einer Insel mitten im schwül-drückenden Görlitz. Noch während ich mich mit geschlossenen Augen in einer der Bankreihen entspanne, weiß ich plötzlich, dass alles gut wird, Ich fühle mich getragen und sorgenlos. Im nächsten Augenblick fließt eine Traurigkeit durch mich hindurch, die ich nicht zuordnen kann, die mir die Tränen in die Augen treibt. Grundlos? Um mich herum flanieren fotografierende Touristen durch das Kirchenschiff. Fotografieren ist gebührenpflichtig. Wie in den Brandenburger Kirchen, die ich auf dem Weg nach Wilsnack und Tangermünde gesehen habe. Auch in Görlitz werden Spenden für die sanierungsbedürftige Orgel gesammelt. Ich entzünde eine Kerze für die Kinder in einer Seitenkapelle, und wundere mich, woher der Impuls dazu gekommen ist. Am Eingang bekomme ich den ersten Stempel in meinen Pilgerpass, den Credenzial, wie er an den spanischen Caminos de Santiago heißt. Der Anfang ist gemacht. Alles steht auf Start.
Abends beleuchten Spotlights die Kirche, die als christliches Wahrzeichen wie die erhobenen Finger Gottes ins einst kommunistische Polen hinüber zeigen. Ein kleiner Imbiss am Flüsterbogen. Panaché und ein opulentes Sandwich mit Salatblättern, Tomatenscheiben und viel Käse, mehr als ich essen kann, für kleines Geld. Ein Pilgerimbiss! Schlemmen in Görlitz! Wenn das ländliche Sachsen, wohin ich morgen früh aufbreche, dem kulinarischen Standard Brandenburgs ähnelt, kommen asketische Tage auf mich zu. Viel Proviant werde ich jedenfalls nicht auf meine Schultern laden. Gegenüber das mondäne Hotel Börse. Das Portal bildet einen eigenartigen Kontrast zu der streng gegliederten Fassade. Die Fenster des Erdgeschosses sind vergittert. Schmiedeeiserne Handwerkskunst. Mehr dem Sicherheitsbedürfnis an der polnischen Grenze geschuldet, als dem Design verpflichtet. Die Angst der Reichen vor polnischen Diebesbanden scheint auch in Görlitz groß zu sein.
Hand in Hand geht ein Großvater mit seiner Enkelin vorüber, das Mädchen nur wenig älter als ein Jahr. Er ist sicher schon weit über die Siebzig. Sie kann gerade erst gehen, er schleppt sich mühsam vorwärts, gebeugt mit unsicherem Schritt. Ein schönes Paar, die beiden. Wie sich das ungleiche Paarbehutsam stützend ihren Weg bahnt, symbolisieren sie Anfang und Ende des Lebenswegs. Buen Camino, ihr beiden, wünsche ich ihnen hinterher, wohin auch immer eure Reise führt. Wie lange werden mich meine Füße noch durch mein Leben tragen?
Auf der anderen Seite des Platzes hat sich ein elegantes Restaurant unter die Arkaden eingenistet. Schräg scheinen die letzten Strahlen der Abendsonne unter die vier Bögen. Jeder Platz ist besetzt, und Stimmengewirr flutet in Wellen über den Platz zu mir herüber. An einem anderen Gebäude prangen die fünf Wappen des Oberlausitzer Sechs-Städte-Bunds als Kapitelle an der oberen Fensterfront. Das Wappen von Görlitz sehe ich nicht unter ihnen. Zwei Jungen toben lärmend über den Platz, und aus der offenstehenden Tür einer Kneipe wabern mir Musik und Gesprächsfetzen in die Ohren. Mittlerweile ist die Sonne hinter den Häusern verschwunden, vielleicht auch hinter den dunklen Wolken, die von Südwestenaufziehen. Ob sie den Regen bringen, den sich meine Herbergseltern so sehnsüchtig für ihren schönen Hausgarten wünschen? Der Winter war viel zu mild, sagen sie, und jetzt fehlt auch noch der Regen. Ich sehe das am Beginn meiner Fußreise entspannter, behalte mein Bedürfnis aber vorsichtshalber für mich.
Die gotische Kirche St. Peter und Paul, das prächtige Wahrzeichen an der Neiße, ist nicht die älteste Kirche der Stadt. Die Grundmauern einer anderen, eher unscheinbaren Kirche, reichen ins Jahr 1100 zurück. Es dämmert bereits, und beginnt zu nieseln, als ich mich auf den Weg zur Nicolaikirche mache. Sie ist die älteste gotische Kirche der Stadt, deren Fertigstellung durch die Peterskirche unterbrochen wurde. Einst lag sie außerhalb des mittelalterlichen Mauerrings, ebenso wie die angrenzende Nikolaivorstadt, der älteste Siedlungskern von Görlitz. Im Schatten der verlassen wirkenden Kirche liegt der Nicolaifriedhof mit Gräbern im Stil des Manierismus, des Barock, des Rokoko und des Klassizismus. Die letzten Gräber wurden im 19. Jahrhundert angelegt, ein verschlafener Friedhof mit bemoosten Grabsteinen, eine in der Abenddämmerung grün schimmernde Idylle. Mich wundert nicht, dass ein Friedhof verschlafen sein kann. Gegenüber liegt die Jesus-Bäckerei, in einem heruntergekommenen Haus, das aussieht, als nehme es am langen Schlaf des Friedhofs teil. Jacob Böhme, der Mystiker, liegt hier begraben. In kurzen Abständen kam ich zuletzt an den Gräbern anderer Berühmtheiten vorbei; seit langem tot: Heinrich Kleist und Adalbert von Chamisso. Ich würde auch gerne an den Gräbern von John Lennon, Jim Morrison und Janis Joplin stehen; den Idolen meiner Jugend. Doch bevor ich Görlitz dieses Mal den Rücken kehre, will ich wenigsten Jakob Böhmes Grab auf dem historischen Friedhof besuchen.
Letztes Jahr kam ich kurz vor der Schließung des Friedhofs hier vorbei, und konnte sein Grab, das etwas abseits liegt, nicht so schnell finden. Wieder irre ich zwischen den Grabsteinen umher. Über eine breite Treppe kommt mir ein junger Mann auf seinem Abendspaziergang entgegen. Sein kleiner Hund zerrt vergeblich an der Leine, die ihn hindert, frei zu streifen. Im Geist sind wir heimlich Verbündete: Er würde viel lieber zwischen den Steinen herumstromern und seine Marke hinterlassen. Ich bin meine Leine los, und wünsche ihm das gleiche Glück. Hinter den beiden ragt die Silhouette einer Friedhofskapelle auf, die das Gelände begrenzt. Eine Ruine, vergessen in der Zeit. Dracula grüßt herüber. »Wer ist denn Jacob Böhme?« fragt mich ratlos der Mann mit der Leine. Er kennt ihn nicht. Zwei Kinder aus Görlitz, damals und heute. Zwei Unbekannte im Strom der Zeit. Niemand sonst kommt noch hierher, den ich fragen kann. In den Schatten zwischen den Gräbern hocken unheimliche Atmosphären. Die feuchte, silbrig-grüne Umgebung bildet eine angemessene Kulisse für einen Horrorfilm, einen nach Edgar Allan Poe vielleicht. Es ist fast dunkel, und wiederbeginnt es zu regnen. In der nassen Dunkelheit assoziiere ich Szenen sich hebender Grabplatten. Ein Schauer mehr.
Schließlich finde Böhmes Grab zwischen vielen anderen, einsamen Grabsteinen im schwindenden Licht des aufziehenden Abends. Aus der Zeit gefallene Monolithen, die nichts miteinander zu tun haben. Im Zwielicht verrät mir keiner, wer unter ihnen ruht. Böhmes Grab ist die einzige gepflegte letzte Ruhestätte. Davor steht eine steinerne Bank für den Besucher. So ehrt die Stadt Görlitz ihren berühmten Sohn. Nach Wanderjahren ließ sich Jakob Böhme 1599 in seiner Heimatstadt Görlitz als Schuhmacher nieder. Zwischen 1600 und 1606 hatte er mindestens drei mystische Erlebnisse, über die er in seiner Schrift Aurora oder Morgenröte im Aufgang berichtete. Die ganze Natur, so schwärmt er enthusiastisch, ist sein Lehrmeister: Es ist ja Böses und Gutes in der Natur. Weil denn alle Dinge von Gott kommen, so muss ja das Böse auch von Gott kommen [...] Die bittere Qualität ist auch in Gott, aber […] als eine ewigwährende Kraft, ein triumphierender Freudenquell, der den Himmel, die Sterne, die Elemente und die Kreaturen beweglich macht. Die grundlegende Annahme des Christentums, bittere Qualität und triumphierender Freudenquell, die Paradoxie des beengten Leibs und der geweiteten Seele; eine erstaunliche Erkenntnis für einen Schuhmacher. Philosophie, Astrologie und Theologie: die Disziplinen, die auch Goethes Faust beherrscht. Böhme war auf der Höhe seiner Zeit, nicht durch akademische Studien, sondern durch die Anschauung der Natur, nicht der Menschen. Erst die Romantiker des frühen 19. Jahrhundert kamen wieder auf diesen Gedanken. Beide, Böhme und die Romantiker waren Wanderer. Böhme musste noch all sein leibliches Spüren und seine Gefühle auf Gott projizieren, seine Zeit ließ ihm keine andere Wahl. Es sollte noch Jahrhunderte dauern, bis Carl Gustav Jung Gott im Selbst des Menschen verortete, und ihn der eigenen leiblichen Erfahrung zugänglich machte. Der theoretische Hintergrund von Böhmes Schaffen, der nie eine Universität besuchte, liegt in der These der Selbsterkenntnis durch Lernen von der Natur: der Mensch erlernt die Welt, er ist die Welt. Böhmes volkstümliche Lehre stand in ungewöhnlich scharfem Gegensatz zur seinerzeit geltenden Schul- und Büchergelehrsamkeit. Seine Gedanken kreisten um fünf erstaunlich aktuelle Themen: um die pantheistische Übereinstimmung von Natur und Gott, um die Ableitung der Prinzipien des Guten wie des Bösen aus der Natur, um den Gedanken, dass der Widerspruch ein notwendiges Moment aller Erscheinungen der Wirklichkeit ist, um die Bedeutung des weiblichen Prinzips (die Idee der Sophia) und um die Freiheitsfähigkeit des Menschen. Seine Freiheitsfähigkeit macht den Menschen verantwortlich, das Böse und das Gute in sich anzuerkennen, es nicht ins Äußere zu delegieren, und entsprechend zu handeln.
Der Friedhof schließt. Welch ein seltsamer Gedanke! Blieben sie nur für immer verschlossen, die Friedhöfe. Wieviel Leid, Schmerz und Verlust ersparte dies den Menschen. Forever Young? Die Demographen drehen sich in ihrem Grab herum. Die Sonne ist mittlerweile hinter den Häusern verschwunden, vielleicht auch hinter die dunklen Wolken, die aus Südwesten heraufziehen. Ob sie den Regen bringen, den sich meine Herbergseltern so sehnsüchtig für ihren schönen Hausgarten wünschen? »Der Winter war viel zu mild,« sagten sie mir bei meiner Ankunft, »und nun fehlt auch noch der Regen.« Ich sehe das anders, heute am Beginn meiner Fußreise, behalte einen Kommentar, der mir in den Sinn kommt, aber höflich zurück.
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