Es sind nicht unsere Unterschiede, die uns trennen. Es ist unsere Unfähigkeit, jene Unterschiede zu erkennen, zu akzeptieren und zu feiern.
Audre Lorde
Es war eine seltsame Begegnung, die mit den beiden einzigen Mitpilger*innen auf der Via Regia. Der gemeinsame Abend im Petri-Zimmer in Bautzen setzt sich unterwegs nicht fort. Von der einen oder anderen Bemerkung, einem flüchtigen Blick, abgesehen, gehen wir uns aus dem Weg. Allan ist wirklich der Däne, von dem mir Frau Wujanz in Nechern erzählt hat. We lebt und arbeitet er mit seiner Partnerin in Bremen. Beide halten sich für "alte Hasen" auf den Jakobswegen in Spanien und Deutschland; sagen sie. Doch die kurzen Augenblicke auf dem Weg reichen nicht für Persönliches. Es zieht sie jedes Mal schneller weiter, als mir gefällt. Der Tag ist inzwischen heiß geworden. Mein Hemd ist schon wieder schweißnass, und der Hosenbund feucht. Astrid und Allan sind heute noch eiliger unterwegs.
Mitten im Nirgendwo verliere ich sie aus den Augen, an einer Gedenkstätte mit dem Titel: Wind der Hoffnung, des Glaubens und der Liebe. Das Skulpturenensemble ist den Sorben und Deutschen in der Lausitz gewidmet. Die Skulpturen des Ensembles wurden im Steinbruch Miltiz, am Ort des Internationalen Bildhauersymposiums Am Krabatstein, von drei Bildhauern gestaltet.
Eine Skulptur, die des Tschechen Robert Alger, die Form und Richtung ändert wie eine im Wind flatternde Fahne, die droht auseinander zu zerren, aber die sich doch harmonisch uniert und einen Schwan (Symbol für Nebelschütz) gestaltet - Gedanken inspiriert von der verbundenen Geschichte der Deutschen und Sorben, und ihnen gewidmet. Die zweite Skulptur des Italieners Andrea Copello, die Augen schließend drücke ich aus, was mein Herz mir sagt, nachdem ich eure Geschichte gelesen habe. Das Einhaken von zwei geometrischen Formen (wie zwei Hände, die sich verbinden) repräsentiert die Union der Menschen von heute die eine dauerhafte Brücke der Brüderlichkeit für zukünftige Generationen bildet. Und die dritte Skulptur des Tschechen David Farell, eine, die ausdrückt, wo die Liebe entspringt, und wo die Liebe beginnt. Es ist der erste Augenkontakt zwischen zwei Menschen - ein Blick, der sagt: »Ich komme mit Liebe im Herzen, mit lauter Liebe.« Die drei Skulpturen thematisieren das schwierige Verhältnis zwischen Sorben und Deutschen, das im Verlauf ihrer Geschichte von Misstrauen und Konflikten bestimmt war. Das gemeinsame Thema der Skulpturen: Lebt man miteinander oder eher nebeneinander? Die Skulpturen stehen sich in einem Rondell mit dem Friedenssymbol auf dem Boden gegenüber, sind zur Mitte gewendet. Besucher können das Rondell nur über einen Pfad betreten, der Teil des Friedensymbols ist, und nehmen somit am aktiv am Friedenswunsch dieser Installation teil.
Doch es dauert nicht lange, und ich habe meine beiden Mitpilger*innen wieder eingeholt. Bis Kamenz entwickelt sich eine anonyme Pilgerstruktur: Wir gehen voreinander her, eine Weile schweigend miteinander, weil keiner schneller vorankommt als der andere, dann gehen wir wieder hintereinander her. Entweder bin ich vorne oder die beiden führen. Einträchtig eintönig folgen wir der Via Regia bis wir Kamenz erreichen, wo ich Astrid und Allan zum letzten Mal sehe. Ohne einen Blick eilen sie an dem lange verschwiegenen Schandfleck der Stadt Kamenz vorbei: der Gedenkstätte des KZ-Außenlager Kamenz-Herrental. Sie wollen heute noch weiter nach Schwosdorf, um morgen mit dem Zug zurück nach Bremen zu fahren.
Während des Zweiten Weltkriegs, von Oktober 1944 bis April 1945, wurde im Gebäude der stillgelegten Tuchfabrik Gebr. Noßke und Co., Herrental Nr. 9, ein Außenlager des KZ-Groß-Rosen betrieben, Tarnname Elster GmbH. Das KZ-Außenlager war jahrelang eine unauffällige Fabrikanlage, in der nahezu 1000 Häftlinge, unter ihnen 150 Juden, in Zwangsarbeit für die Daimler-Benz AG Flugzeugmotorenteile herstellen mussten. Ich setze mich auf eine Bank vor das restaurierte Gebäude mit dem hoch aufragenden Schornstein, in dem sich während der NS-Zeit Grauenhaftes abgespielt haben muss. 125 aktive Regimegegner wurden in einem Krematoriumsofen verbrannt. Erst 2012 bekannte man sich öffentlich zu diesem Ort des Grauens und wandelte die einstigen Todesräume in eine Gedenkstätte um. Auf mehreren Tafeln sind die Namen der Ermordeten verzeichnet. Die Natur hat den Raum des Schreckens zurückerobert und Jugendliche treffen sich an der Gedenkstätte zu lebendigem Spiel. Ununterbrochen erinnert die schwarze Tafel mit goldener Schrift an das Ungeheuerliche, das sich hier ereignet hat und jahrelang verschwiegen wurde:
Dieser Betrieb war in den Jahren 1944/45 als KZ-Lager eingerichtet.
Die Faschisten verbrannten hier 125 gemordete Widerstandskämpfer.
Angehörige verschiedener Nationen.
Der Kampf dieser Opfer soll uns Vorbild und Verpflichtung sein.
Stolze Worte denke ich, dieser Appell zu Vorbild und Verpflichtung, zu Zivilcourage. Wie hätte ich mich damals verhalten? Wie trete ich rechtsradikalem oder staatlichem Terror entgegen, der Menschenrechte und demokratische Freiheiten bedroht? Die Gedenkstätte wurde in die Liste der Kulturdenkmale in Kamenz aufgenommen, in der die Kulturdenkmale der Stadt aufgeführt. Dass es sich bei einer solchen Stätte des Grauens um ein Kulturdenkmal handelt, muss man mir erst noch erklären.
Auf einen meiner Streifzüge durch Kreuzberg traf ich Audre Geraldine Lorde. Nicht persönlich, sie starb bereits 1992, sondern ihren Geist, der neuerdings nach Kreuzberg zurückgekehrt ist, wo sie Lesungen und Vorträge hielt. Im Rahmen der Umwidmung von Straßennamen, die an historische Persönlichkeiten erinnern, deren Einstellung und Handeln heutzutage nicht mehr akzeptabel ist, wurde die frühere Otto-Theodor-von-Manteuffel-Straße umbenannt. Jetzt trägt diese Straße einen politisch korrekten Namen und erinnert nicht mehr an den preußischen Minister, der 1848 an der Rücknahme der demokratischen Reformen beteiligt war. Jetzt heißt diese Straße im Herzen Kreuzbergs Audre-Lorde-Straße und erinnert an die afro-amerikanische Dichterin und Aktivistin, die 1977 eine Gastprofessur am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin erhielt. Audre Lorde widmete ihr Leben dem Kampf gegen Homophobie und Rassismus und für Schwarzen Feminismus. Ihr literarisches Werk hat die deutsche Schwarze Bewegung maßgeblich beeinflusst. Nicht nur Landschaften, auch Straßen erinnern an Geschichte.
Und wie verwandt ist der rigide fundamentalistische Katholizismus mit autoritären politischen Systemen? Es ist nur ein kurzer Schritt zu den amerikanischen Evangelikalen, die das Trump-Regime unterstützen, Israels Vernichtungskrieg rechtfertigen und sich nach Armageddon sehnen, die in der Offenbarung des Johannes visionär geschauten endzeitlichen Entscheidungsschlacht, der Krieg des großen Tages Gottes; im erweiterten Sinn, außerhalb des theologischen Diskurses, eine große, alles zerstörende Katastrophen. Heute glauben etwa 58 Prozent der weißen Evangelikalen in den Vereinigten Staaten, dass Jesus bis 2050 wiederkehrt. Danach werden am Ende der Zeiten alle Staaten die Herrschaft einem totalen politischen Führer übertragen, der sich als der Antichrist erweisen wird.
Wie verwandt war der rigide fundamentalistische Katholizismus mit Intoleranz und autoritären politischen Systemen? Und ist es teilweise noch immer. Es ist nur ein kurzer Schritt zu den amerikanischen Evangelikalen, die weltweit immer populärer werden, und den etablierten christlichen Konfessionen das Wasser abgraben. Eine radikal konservative Erneuerungsbewegung, von der nichts Gutes zu erwarten ist. Sie sind die Fußsoldaten des Trump-Regimes, rechtfertigen Israels Vernichtungskrieg und sehnen sich nach Armageddon, der in der Offenbarung des Johannes visionär geschauten endzeitlichen Entscheidungsschlacht, der Krieg des großen Tages Gottes; im erweiterten Sinn, außerhalb des theologischen Diskurses, eine große, alles zerstörende Katastrophe.
Heute glauben etwa 58 Prozent der weißen Evangelikalen in den USA, dass Jesus bis 2050 wiederkehren werde. Danach werden am Ende der Zeiten alle Staaten die Herrschaft einem totalitären politischen Führer übertragen, der sich als der Antichrist erweisen wird. Alles ist in mir, was Vernunft und Einsicht ist, sträubt sich gegen diese Glaubensätze. Die große Mehrheit der Evangelikalen ist heute gegen die Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, gegen Säkularisierung und pluralistische Lebensstile, befürwortet die Todesstrafe und möchte alle staatlichen Sozialmaßnahmen abschaffen. Sozialhilfe eine Aufgabe der Kirchen. Ihre Einstellung ist nicht offen rassistisch, sondern vorwiegend ethnozentrisch: Migranten bedrohen durch ihre fremden Kulturen die amerikanischen Werte. Anhänger islamischen Glaubens werden tendenziell ablehnend betrachtet.
Kamenz. Die fünfte Stadt des einstigen Oberlausitzer Sechs-Städte-Bunds, die ich inzwischen durchquert habe. Gottfried Ephraim Lessing ist in Kamenz geboren, lese ich auf einem Transparent, als ich die Stadtgrenze passiere. Die Lessingstadt Kamenz, obersorbisch Kamjenc, wörtlich »Kleiner Ort am Stein«, ist eine große Kreisstadt im Landkreis Bautzen in der Westlausitz, am Fuße des 290 Meter hohen Hutbergs. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts wurde an der Stelle der heutigen Altstadt eine Burg zur Sicherung des Überganges der Via Regia über die Schwarze Elster erbaut. 1225 wurde Kamenz erstmals urkundlich erwähnt, seit 1319 war der Ort eine freie Stadt. Als 1346 der Oberlausitzer Sechsstädtebund zum Schutz des Landfriedens gegründet wurde, des vertragsmäßigen Verzichts der Machthaber auf die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung eigener Rechtsansprüche, war Kamenz dessen westlichster Mitgliedsstadt. Wie viele Ortschaften der Region wurde auch Kamenz 1429 für mehrere Tage von den Hussiten belagert und eingenommen. Die böhmischen "Gottesstreiter“ verwüsteten auch das Kloster Sankt Marienstern bevor sie gegen Bautzen zogen.
Gotthold Ephraim Lessing, einer der bedeutenden deutschen Dichter und Philosophen der Aufklärung, wurde am 22. Januar 1729 in Kamenz geboren. Sein Geburtshaus, jetzt die Gedenkstätte Lessing-Museum Kamenz, das zu den zwanzig kulturellen Gedächtnisorten in den neuen Bundesländern gehört, befindet sich am Nordrand der Altstadt, gegenüber der spätgotischen Klosterkirche Sankt Annen. Obwohl Lessing seine Geburtsstadt früh verließ, er studierte in Leipzig und lebte später in Städten wie Berlin, Hamburg und Wolfenbüttel, blieb er bis heute eine prägende Figur für die Identität der Stadt.
Gotthold Ephraim Lessings Drama Nathan der Weise (1779) ist ein zentrales Werk der Aufklärung, das für Toleranz, Humanität und religiöse Vernunft wirbt. Ich weiß nicht, ob in den Schulen Lessings Tragödie Nathan der Weise heutzutage noch Thema ist. In meiner Zeit war der Stoff wichtiger Bestandteil des Curriculums des Deutschunterrichts. Nathan der Weise spielt in Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge, in Jerusalem, einem Ort, an dem drei Weltreligionen – Judentum, Christentum und Islam – aufeinandertreffen.
Der jüdische Kaufmann Nathan kehrt von einer Reise zurück und erfährt, dass seine Tochter Recha von einem christlichen Tempelritter aus einem brennenden Haus gerettet wurde. Nathan will sich bedanken, doch der Tempelritter lehnt zunächst jeden Kontakt ab, da er Vorurteile gegen Juden hat. Lessing thematisiert in seiner Tragödie religiöse Gleichberechtigung und gegenseitige Toleranz, heute wichtig wie vor tausend Jahren. In der Ringparabel, der zentralen Szene des Spiels, fragt Nathan den muslimischen Sultan Saladin, welche Religion die wahre ist.
Ein Vater besitzt einen kostbaren Ring, der seinem Träger die Gunst Gottes und der Menschen schenkt. Er vererbt ihn jeweils an den liebsten Sohn. Doch weil er drei Söhne gleich liebt, lässt er zwei identische Ringe anfertigen, sodass niemand mehr den echten erkennen kann. Nach dem Tod des Vaters streiten die Söhne, wer den echten Ring besitzt. Schließlich ein Richter, dass nicht der äußere Ring zählt, sondern das Verhalten: Wer den wahren Ring trägt, soll sich durch Liebe, Toleranz und Menschlichkeit beweisen:
Mein Rat ist: nehmt die Sache so, wie sie ist. / Hat jeder von euch seinen Ring von seinem Vater – / So glaube jeder sicher seinen Ring / Den echten. Möglich, / Dass der Vater die Tyrannei des Ringes / Nicht länger dulden wollen!
Eine Parabel ist eine belehrende Erzählung, die Fragen über die Moral und ethische Grundsätze aufwirft. Lessings Parabel zeigt, dass keine Religion den alleinigen Wahrheitsanspruch erheben kann. Entscheidend ist das ethische Handeln des Menschen; unabhängig von seinem Glauben. Wahre Religion zeigt sich im moralischen Handeln des Menschen, nicht in den Dogmen einer Konfession. Lessing plädiert für die Vernunft als oberstes Prinzip im menschlichen Miteinander. Der Mensch soll selbstständig denken (sapere aude) und sich nicht blind auf Autoritäten oder Traditionen verlassen. Recha wird als Christin geboren, wächst aber als Jüdin auf. Auch beim Tempelherrn und Saladin verschwimmen die Grenzen. Nathan der Weise ist ein Plädoyer für religiöse Toleranz, Vernunft und Menschlichkeit. Lessing argumentiert, dass Aufklärung nicht Kampf gegen Religion bedeutet, sondern eine vernunftbasierte Annäherung zwischen den Religionen möglich ist. Ein Thema, heutzutage von hoher Brisanz und Aktualität. Lessings Theaterspiel endet versöhnlich mit dem Appell an Menschlichkeit und religiöse Toleranz. Unsere deutsche Alltagswelt hat diesen Konflikt noch lange nicht gelöst.
Meine Fußreise endet heute in Kamenz. Zuerst muss das Gepäck vom Rücken, denn das Gewicht hat durch den mittlerweile eingekauften Proviant erheblich zugenommen. Ich will mir die Stadt anschauen und im Lessingturm auf dem Hutberg übernachten. Mich reizen der Name und die Aura, die im Klang der Worte mitschwingen. Ich irre eine Weile umher, bis ich die Hutbergstraße finde, die hoch in die Pilgerherberge Türmerhaus führt. Als ich die Straße endlich finde, und sehe, wie steil sie zum Hutberg ansteigt, gefällt mir die Idee, in Kamenz zu übernachten, überhaupt nicht mehr. Trotzdem steige ich bepackt in der prallen Sonne Dutzende Meter den Berg hinauf. Wieder einmal bin ich der einzige Fußgänger; wenige Autos kommen mir von oben entgegen. Wie wenige Menschen gehen noch weite Strecken zu Fuß! Ohne ihr Auto fühlen sie sich nackt.
Nicht nur Lessing war in Kamenz, auch Heino, der Deutsch-Volkssänger. Vom Rand der Hutbergstraße grüßt er mich in zünftigem Metaller-Outfit und ungewöhnlichem Motto: Schwarz blüht der Enzian. lautet nun seine Botschaft. Am 2. Juni gibt er ein Konzert auf der Hutbergbühne, eine Freilichtbühne für bis zu 10 000 Zuschauer am äußersten Westrand der Kernstadt - leider ohne mich. Dem verwandelten Heino hätte ich gerne zugehört. Im Alter lässt sich der Sänger von Volksliedern und Schnulzen auf ein interessantes Experiment ein: er vermischt seine Weisen mit denen des Heavy Metal und Hard Rock, wird von Rammstein protegiert und in Wacken gefeiert.
Der erste Liter des Mineralwassers, das ich gerade erst eingekauft habe, ist dem Aufstieg zum Opfer gefallen. Der steile Weg auf den Berg ist die abschließende Strapaze des Tages. Oben angekommen, stehe ich in einem Biergarten, bevölkert von Ausflüglern auf ihrem verspäteten Samstagnachmittag-Spaziergang. Hier gibt es reichlich von dem, was der Name verspricht, und mir mangelt es nicht an Flüssigem. Der Anstieg hat sich gelohnt. Der Hutberg mit dem Lessingturm ist ein beliebter Ausflugsort in Kamenz, ein Höhenzug mit schönen Aussichten in die Umgebung. Auf dem Gipfel des Hutbergs steht der Lessingturm, ein Aussichtsturm, der im 19. Jahrhundert gebaut und seitdem mehrmals renoviert wurde. Er ist ein Symbol der Wertschätzung für ihren berühmten Sohn und verbindet Natur, Kultur und Geschichte.
Die Pilgerherberge befindet sich in der ehemaligen Wohnung des Türmers im Lessingturm - ein Schlafzimmer mit mehreren Betten, eine Küche, Toilette und ein Meditationsraum. Eine gute, wenn auch dunkle und muffig riechende Unterkunft mit einem grandiosen Panoramablick über das Mittelgebirge der Lausitz, das mich an den Taunus erinnert, wo ich einst sehr glücklich war.
Den Abend verbringe ich im Freien. Es ist ein schöner Abend im orange-roten Schimmer des Sonnenuntergangs, trinke Landskron-Pils und schreibe Tagebuch. Auf meinem Abendspaziergang rund um den Lessingturm stoße unerwartet ich auf eine Variante der Via Regia. Ich bin mit meiner Entscheidung zu bleiben schnell ausgesöhnt, und verschiebe die Besichtigung von Kamenz kurzerhand auf morgen. Wie es aussieht, habe ich auch das Türmerhaus für mich allein. Wer ist schon so verrückt, bei dieser Hitze auf den Hutberg zu steigen?
Die Stadt ist am Sonntagvormittag wie ausgestorben. Autos fahren an mir vorbei, und bis auf ein paar Touristen bin ich der einzige Fußgänger. Kamenz zu erkunden, kann eine einsame Angelegenheit sein. Kamenz ist eine Stadt mit einer beeindruckenden mittelalterlichen Geschichte, die sich noch heute in gut erhaltenen Resten der Stadt- und Klosterbefestigung zeigt. Im Süden der Altstadt komme ich an den Resten der mittelalterlichen Stadt- und Klosterbefestigung vorbei, dem denkmalgeschützten Roten Turm, ein Wehrturm zur Verteidigung der Stadt, der seinen Namen vermutlich der rötlichen Färbung der Steine verdankt. Die Stadtschreiberbastei gehörte zur östlichen Stadtbefestigung, einst Sitz des Stadtschreibers, jetzt ist die Bastei ein malerischer Ort, der für eine Rast oder einen Spaziergang. Oder der Pichschuppen, ursprünglich ein Lagerraum für en Teer (Pech) für die Reparatur von Dächern und Wehrbauten am Rand der Stadtmauer. Eine weitere Station, an der ich auf meinem historischen Bummel durch Kamenz vorbeikomme, sind die sogenannte Mönchsmauer, mit dem Klostertor, die Befestigung des ehemaligen Franziskanerklosters, ein architekturhistorisches Zeugnis von der kirchlichen Präsenz im mittelalterlichen Kamenz, die das klösterliche Areal vom städtischen Raum trennte, und gleichzeitig innerstädtische Sicherung garantierte. Namen von Gebäuden, die von Verteidigung, Verwaltung, Religion und Alltagsleben im mittelalterlichen Kamenz erzählen, die Geschichten von der strategischen Bedeutung der Stadt, ihrer Wehrhaftigkeit und ihrer religiösen Prägung bewahren.
Noch einmal gehe ich die steile Hutbergstraße hinauf, denn die Traverse zur Via Regia, die ich gestern n Abend fand, verlässt Kamenz durch en Wäldchen hinter dem Lessingturm. Ich nehme den Weg zwischen den Bäumen den Berg hinab nach Königsbrück.
Ich kann nicht alle Gedanken, Gefühle und Eindrücke aufschreiben, die während einer Wanderung kommen und gehen. Sie sind an ihren Ort und an ihre Zeit gebunden. Ein paar Schritte später werden sie von anderen Impressionen abgelöst, neue Wahrnehmungen, Erinnerungen und Faszinationen schieben sich ungefragt an ihre Stelle. Ein fließender Prozess des Vergessens und der Erneuerung. Nicht alles, was die Natur, die Landschaften und die Begegnungen mir geben, nicht alles, was mir unterwegs auf Schritt und Tritt einfällt und zufällt, hat Beständigkeit. Ich müsste sonst mein Tagebuch in Schritte gliedern, nicht in Kapitel. Nur die Kontinuität, der emotionale und mentale Flow des Gehens bleibt erhalten, erinnert im Vorübergehen an die Vergänglichkeit jeder Existenz. Sicher es wäre schön. Doch es ist unrealistisch, denn unterwegs fehlen dazu Zeit und Gelegenheit. Am Abend sind viel zu oft unterschiedlich vage Erinnerungen ohne ihren Kontext übriggeblieben, die ihren Weg aufs Papier finden wollen. Würde ich unterwegs ständig innehalten, den Rhythmus des Gehens unterbrechen, meine Aufmerksamkeit auf konkrete Details richten, mein Notizbuch hervorholen, um in die Welt des Schreibens eintauchen, das ganzheitlich leibliche Erlebnis einer Wanderung zerfiele in seine Einzelteile: sinnlich und kognitiv, emotional und mental, innen und außen, profan und sakral. Es wäre eine seltsame Fußreise, die sich nicht von meiner Schreibweise unterscheidet. Zu intensive Reflexion schadet dem leiblichen Spüren, denn die Gedanken schneiden die sinnliche Wahrnehmung von ihrem Gegenstand ab. Jakob von Uexküls Merkwelt und Wirkwelt zerfielen in ihre getrennten Hälften. Viele Eindrücke und Begebenheiten verlieren ihre holistische Qualität; gehen unwiderruflich verloren. Beim Gehen des Schreibens wegen innezuhalten, eine schlechte Wahl. Was ich zu Fuß gehend denke und fühle, all die Imaginationen und Inspirationen des Unterwegsseins, verschmelzen in meiner Stimmung, tönen die Atmosphären der Landschaft, und machen den einen besonderen Gang aus. Im Gehen spüre und erfahre ich mich, physisch und psychisch, Schritt für Schritt. Die Flüchtigkeit der Eindrücke, Augenblick nach Augenblick vorüberziehend, verdichten sich zu einem Panorama des Loslassens. Das Glücksgefühl stellt sich erst ein, wenn Gefühle und Gedanken zu fließen beginnen, sich innere und äußere Welt, Leib und Geist, miteinander verbinden. In seltenen Momenten werden sie im Gehen wie ein Orgasmus eins mit der Welt, die mich umgibt. Am Ende des Tages haben sich alle diese Eindrücke und Atmosphären zu einem einzigartigen Gesamteindruck gestaltet. Die Ernte des Gehens!
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