Ein Land ist nicht nur seine Landschaft, es ist auch seine Geschichte. Wenn die alten Namen verschwinden, verschwinden die Geschichten mit ihnen. Die neuen Namen rufen keine Erinnerung an die Vergangenheit mehr wach.
Ich schaue aus dem Fenster und verliere die Lust aufzustehen. Anscheinend hat es die ganze Nacht geregnet. An den Scheiben verbinden sich die Tropfen zu Rinnsalen, die langsam abwärts fließen. Leben heißt, auf etwas zuzuwandern. Doch warum gleich im Regen? Ortega y Gasset hat diesen Satz sicher am Schreibtisch und im Trockenen geschrieben, beruhige ich mich, bleibe liegen und verschlafe schließlich.
Heute ist mein Geburtstag: mein fünfundsechzigster. Ich glaube, ich bin das erste Mal in meinem Leben an meinem Geburtstag allein. Eine Premiere! Ohne Netz keine Glückwünsche. Keine Feier! Kein Zusammensein mit anderen Wanderern. Niemand kann mich telefonisch erreichen. Bedeutet netzlos sein, von der Kommunikation ausgeschlossen zu sein? Natürlich nicht, höchstens abgeschnitten, für eine Weile. Es gab eine Zeit, da spielte das keine Rolle. Wochenlang reiste ich durch Europa und Asien; niemand konnte mich erreichen, und ich niemanden. Familie und Freunde wussten nicht, wo ich war und wie es mir ging. Was in der Heimat geschah, dass konnte ich mir allenfalls ausmalen. Interessiert hat es mich damals nicht. Die mannigfaltigen Eindrücke der Fremde waren zu überwältigend. Inzwischen hat das Smartphone die Kontrolle über meine Bedürfnisse übernommen. Ohne zu wollen, mache ich mir überflüssige Gedanken. Ob jemand ein Glas Sekt auf mich trinkt, und dabei an mich denkt? Ganz bestimmt. Es ist in Ordnung, so wie es ist. Ich habe es nicht anders gewollt. Ob die Meinen damit auch so gut zurechtkommen? Macht es Sinn, nach der Bedeutung zu fragen, wenn es keine Antwort gibt? Die eigenen Fantasien wurzeln in archaischen Bedürfnissen und schlagen lustige Kapriolen. Ich fühle mich ein wenig verspottet, weiß aber einen Augenblick später, dass auch das zur Heimat gehört. Sehnsucht richtet sich manchmal rückwärts. Geburtstage sind weniger wichtig geworden, seit ich älter bin. Ich vermeide sie inzwischen gerne, und setze mich über die Konvention hinweg, dass jedes neue Lebensjahr mir einer Feier beginnen muss. Ich zelebriere mein neues Jahr auf meine Weise: Ich wandere durch sie sächsische Oberlausitz und erfülle mir meinen Traum von Ungebundenheit und Freiheit. Allenfalls Easy-Rider-Romantik: I wasn´t born to follow! Vielleicht ein Anfang. Ich fühle mich melancholisch, nicht einmal traurig. Trotzig weigere ich mich, Fünfundsechzig zu sein. Wie unvernünftig das klingt! Doch ich bin nun Pensionär und kann mir das leisten. Ein wahrhaft großzügiges Geburtstagsgeschenk. Grund genug für ein rauschendes Fest. Doch die Politik hat etwas anderes verfügt. Die Rente mit 67! Welch ein Witz! Die Inkompetenz der Volksvertreter, der etablierten politischen Klasse, versteht es hervorragend, nur ihre Klientel zu bedienen und in die eigene Tasche zu wirtschaften. Fünf Monate Freiheit haben sie mir gestohlen. Einfach so. Per Gesetz. Was soll's! Ich bin endlich wieder unterwegs, auf meinem zweiten Pilgerweg, was ich nie für möglich gehalten hätte. Jakobus sei Dank!
Die morgendliche Stille in der Jugendscheune von Melaune ist absolut. Ich höre nichts, nur die Geräusche, die ich selbst mache, und frage mich, ob Stille nicht mehr ist als nichts, mehr als nur die Abwesenheit von Geräuschen, von Lauten, von Lärm und dem allgegenwärtigen Klang der Großstadt. In der Stille von Melaune werden meine Gedanken laut, und meine Gefühle suchen nach den richtigen Worten. Paul Simon thematisiert in seinem Lied The Sound Of Silence das Unbehagen von Menschen an der Stille, die häufig in Ängste, Depressionen und Schlafstörungen münden:
Hello darkness, my old friend
I've come to talk with you again
Because a vision softly creeping
Left its seeds while I was sleeping
And the vision that was planted in my brain
Still remains
Within the sound of silence
Dieses Unbehagen wurzelt in der Furcht vor ins Gehirn gepflanzte Samen, die uns mit uns selbst konfrontieren, immer dann, wenn es plötzlich still wird, wenn wir gezwungen sind, innezuhalten, uns die alltäglichen Geräusche nicht mehr ablenken und Gefühle vermeiden helfen. Wie viele Menschen mag es geben, die die Stille begrüßen, und sich ihr hingeben? Doch die Stille, folgert der Singer-Songwriter, ist ein Freund, der uns in diesen Momenten zuflüstert, der seine Worte für die Passanten schreibt, die lauschen und hinsehen on the subway walls and tenement halls.
Ein Geburtstag im Regen! Bevor ich aufbreche, wünsche ich mir, dass ich nicht zu nass werde. Es nieselt noch immer. Es ist kalt, und ich ziehe mir beide Jacken über, die mit, und die ohne Ärmel. Die ohne Ärmel ist, wenn ich sie zusammenfalte, nicht mehr als ein größeres Taschentuch. Den Schlüssel werfe ich wie verabredet in den Briefkasten der Herbergseltern, die nur ein paar Häuser entfernt wohnen. Sie sind längst in die Stadt zur Arbeit gefahren. Ohne eigenes Auto geht im ländlichen Sachsen, außerhalb der kleinen Städte der Region, gar nichts.
Im Dorfladen, den es längst nicht überall gibt, kaufe ich Proviant und Wasser, schaue kurz in die kleine Kirche, die inmitten des Friedhofs steht. Dann mache ich mich auf den Weg nach Buchholz, auf eine Landstraße, die im Regen glänzt. Schon bald biegt sie auf einen Plattenweg in einen Windpark ab.
Zwischen den großen Windanlagen steht ein einsames Kreuz mit einer Inschrift. Sie handelt vom Schutz der Schöpfung, der Naturschutz und ökologisches Bewusstsein ist:
Christus gestorben für viele . . .
auch für die Natur.
Hier sollten 40 ha Natur
für eine Sondermülldeponie sterben,
weil wir einen umweltfeindlichen
Lebensstil haben.
"Sehnsüchtig
wartet die Schöpfung,
dass die Kinder Gottes
offenbar werden" (Röm 8,19; 6.02.1994).
Ein Mahnmal, gegen maßlosen Konsum und Zerstörung der Umwelt. Wer in Städten lebt, wie ich, vergisst schnell, wie schön die Welt und das Leben sind. Wie wenig unternehmen wir, um einen sanfteren ökologischen Fußabdruck zu hinterlassen.
Nieselregen in Teppe und in Buchholz, mit einem Dorfteich im Zentrum, in dem der Regen konzentrische Kreise zwischen die Schwimmblätter der Mummeln zeichnet. Ich möchte rasten, um die friedliche Stimmung aufzunehmen, aber die Bank ist nass und durch die Blätter der Bäume tropft der Regen. Der Nieselregen hat sich längst in das verwandelt, was ich mir unter einem ergiebigen Landregen verstelle. Was ist nur aus meinem Geburtstagswunsch geworden? Ich hole den Poncho aus dem Rucksack und mache mich regenfest.
Der Weg nach Weißenberg führt über einen schmalen Pfad zwischen kleine Bäume. Das tropfende Gras steht kniehoch. Von meinen Schritten geschüttelt, entlädt es seine nasse Fracht auf meine Hosenbeine und Schuhe. In Weißenberg spüre ich den Regen in den Schuhen. Der Poncho endet an den Knien und meine Hose ist schwer von der Nässe.
Noch bevor ich Weißenberg erreiche, sehe ich ein verblichenes Schild; eine Variante der Via Regia in den Ort, der die Landstraße meidet. Ein rutschiger Weg führt ins dämmerige Grün, abschüssig, hinunter ins Tal des Löbauer Wassers, ein kleiner Fluss, der schließlich auch in die Spree mündet. Die bewaldete Böschung endet auf einem Weg, der entlang des Wassers nach Weißenberg mäandert. Ich bin zufrieden. Trotz des Regens und des rutschigen Bodens kann ich der Landstraße den Rücken kehren. Der schmale Grat oberhalb des Löbauer Wassers ist nur ein Hauch von Wald, aber er tut meiner Seele gut; nach all den Feldern und asphaltierten Wegen seit Görlitz; ein Fitzelchen urwüchsige Natur, zu unbedeutend, als dass man ihr Gewalt antut.
In Weißenberg regnet es. Was ist von einem Tag anderes zu erwarten, der nass begann, der wolkenverhangen und grau die Welt bedeckt. Die Straßen sind leer. Nur am Marktplatz fährt ein Bus nach Bautzen ab. Die Versuchung ist groß, gut, dass ich ihn verpasst habe. Weißenberg, sorbisch Wóspork, hat etwa 1000 Einwohner; mit den umliegenden, eingemeindeten Dörfern sind es ungefähr 3200. Die Stadt liegt sechzehn Kilometer östlich von Bautzen und nördlich des bewaldeten Strohmbergs, ein zum Landschaftsschutzgebiet deklarierter Doppelgipfel. der im Osten und Norden weiträumig vom Löbauer Wasser umflossen wird. Auf dem Strohmberg stand einst eine slawische Burg, im 11. Jahrhundert eine aus Trockenmauern errichtete Gipfelburg. Die Holzbauten waren mit Erdreich angefüllt, der Wall bestand aus dem örtlichen Basalt.
Weißenberg an der Via Regia. König Ottokar I. Přemysl, König von Böhmen aus der Dynastie der Přemysliden gründete 1228 die Stadt Wizenburg, die weiße Burg. 1625 kaufte sich der Ort vom Adel frei. Bis ins 18. Jahrhundert war die Stadt ein größtenteils von Sorben bewohnter Marktflecken, der vom Handel auf der Hohen Straße profitierte. Der Zweite Weltkrieg kam spät und unspektakulär. Im April 1945 nahm die sowjetische Artillerie den Bahnhof unter Beschuss und besetzte die Stadt.
Auf einer Seite des Marktplatzes hat die Jägerklause ihre Außenbeleuchtung eingeschaltet. Ich hätte sie sonst übersehen, zwischen all dem Grau, das die Stadt umgibt. Auf der anderen Seite des Platzes sind die Fenster eines neu eröffneten Pizza-Döner-Imbisses hell erleuchtet. Deutsche Tradition und Einwanderung tauchen den Markt in eine multikulturelle Szene, machen den Ort vielfältiger. Nichts ist gegen Pluralität zu sagen. Sie bietet unerwartete Möglichkeiten, Bereicherung für beide Seiten und die Chance gemeinsam zu wachsen. Ich muss aus dem Regen heraus, will trocknen, und entscheide mich für den Imbiss. Die Jägerklause, um es freundlich auszudrücken, wirkt auf mich zu bürgerlich, das auf der ausgehängten Speisenkarte angebotene Essen zu fleischig. Mein Aufzug ist zu fremdartig für das verschlafene Weißenberg, und ich weiß, dass man im Imbiss besser mit mir zurechtkommt. Ich traue den Migranten mehr Toleranz zu. In ihrem Imbiss friere ich, und erst als ich mit der Pizza fertig bin, ist auch meine Kleidung wieder trocken. Der Regen legt eine Pause ein, doch es nieselt sachte weiter. Weißenberg im Regen ist nicht attraktiv. Ich wünsche mir ein warmes Zimmer, ein Dach über dem Kopf. Mein Geburtstagswunsch hat sich den Umständen angepasst. Überstürzt breche ich nach Gröditz auf, wo ich mir vornehme, in der dortigen Pilgerherberge die Etappe nach Bautzen abzubrechen und zu übernachten.
Die Straße am Ortsausgang biegt auf den Mühlenradweg ab, ein deutsch-polnisches Gemeinschaftsprojekt, das neun historische Mühlen der Region miteinander verbindet. Der sandig-kiesige Weg ist für Wanderer ideal, für Räder nur mühsam befahrbar, besonders wenn die überbaute Bahntrasse nass ist wie heute. Der letzte Zug fuhr 1972 über den Viadukt, der die Gröditzer Skala überbrückt. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war die Eisenbahn eine wichtige Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung der Region. In den 1980er Jahren entstand im Königreich Sachsen die Idee, mit einer Eisenbahnverbindung an die Tradition der Hohen Straße, der Via Regia, als einer wichtigen Ost-West-Handelsroute für den Personen- und Güterverkehr anzuknüpfen. Mit zusätzlichen Nebenstrecken ließen sich die abgelegenen Gebiete der Oberlausitz in das Schienennetz integrieren.
Was ist aus den »blühenden Landschaften« geworden, die Helmut Kohl den neuen Bürgern des wiedervereinigten Deutschlands versprochen hat? In mir keimt der Gedanke auf, dass es hier längst blühende Landschaften gab, lange bevor sie der rechte und dann der linke Faschismus unter sich begrub. Was ist geblieben, wirtschaftliche Wüsten, wie einst, nach den Hussitenkriegen oder den napoleonischen Kriegen?
An der Wuischker Mühle überquert die Bahn schließlich das Löbauer Wasser. Beschwingt laufe ich über den weichen Sandboden. Es ist still, niemand anders ist unterwegs. Das rhythmische Klack-Klack meiner Stöcke spüre ich nur als Vibration in den Händen, hören kann ich es nicht. Die Technik des Stockwandern lenkt mich kaum noch ab, mein Körper weiß intuitiv, was zu tun ist. Nur wenn ich mich plötzlich auf die Technik besinne, komme ich aus dem Takt. Am Fragment einer Eisenbahnbrücke, über die der Radweg weiter zur Wuischker-Mühle führt, weist mich die gelbe Muschel des Pilgerwegs eine Treppe hinunter zurück auf einen Feldweg. Im ersten Augenblick bin ich enttäuscht, diesen schönen Weg so schnell wieder zu verlassen. Mürrisch mache mich an die leichte Steigung den Hügel hinauf, als mein Weg unerwartet in einen Trampelpfad mündet, der zwischen Unterholz und Bäumen verschwindet.
Am Wegrand ein Hinweisschild: Gröditzer Skala. Mechanisch lese ich die Information auf der schon verwitterten Tafel, ohne vorauszusehen, was mich auf den nächsten drei Kilometern erwartet. Die Gröditzer Skala ist das Durchbruchstal des Löbauer Wassers, das sich dreißig bis vierzig Meter tief in den Quarzglimmerfelsen der Lausitzer Grauwacke eingeschnitten hat. Die Felsen sind stark umgebildet und bieten einen guten Einblick in den geologischen Aufbau der Schlucht. Schon im 19. Jahrhundert wurde der Weichaer Teil in ein Landschaftsschutzgebiet umgewandelt. 1961 wurde dann die gesamte Gröditzer Skala zu einem Naturschutzgebiet erklärt. Die Skala ist ein außergewöhnliches Naturschutzgebiet. Sie erstreckt sich von Gröditz zu den Ortsteilen Weicha und Wuischke am Löbauer Wasser entlang. Die Bezeichnung Skala kommt aus dem Sorbischen, wo sie einen einzelnen Felsen oder ein sandiges Felsental bezeichnet. In der Elster-Eiszeit hat sich das Löbauer Wasser durch die Nordlausitzer Grauwacke seinen Weg gebahnt, wodurch das heutige Relief der Schlucht entstanden ist. Die steilen Nord- und Südhänge bieten sehr unterschiedliche Lebensräume auf engstem Raum. Eine außergewöhnlich vielfältige Biodiversität zeichnet die Schlucht aus: artenreicher Laubwald mit Traubeneichen, Hainbuchen, Eschen und Ahornpopulationen. Auf sonnenbeschienenen Hanglagen wachsen Linden sowie Berg- und Spitzhorn. Aus dem Adlerfarnteppich streben Weißbirken und Bergulmen ans Licht. Zwischen den Bäumen finden die Süße Wolfsmilch, das Waldbingelkraut und der Großblättrige Fingerhut zusammen mit dem Sarmatischen Vergissmeinnicht ideale Bedingungen. In diesem Biotop leben zahlreiche Vögel und Waldtiere in einem geschützten Lebensraum.
Die Gröditzer Skala ist mein Geburtstagsgeschenk. Es wundert mich nicht mehr, dass ich so lange warten musste. Inzwischen hat es auch aufgehört zu regnen. Vielleicht bemerke ich in meiner Begeisterung unter dem dichten Geäst der alten Bäume auch nur nichts davon. Der schmale, von verrotteten Blättern bedeckte braune Weg führt steil hinab in die Schlucht. Er neigt sich so sehr abwärts, dass es ohne Stöcke anstrengend ist, langsam zu gehen, um die zauberhafte Atmosphäre zu genießen. Am Grund der Schlucht verläuft der Weg eng am Löbauer Wasser entlang. Der Wald, der die Schlucht bevölkert, steht dicht. Der Boden zwischen den Bäumen glänzt im satten Grün der vielfältigen Pflanzengemeinschaft, von denen ich kaum welche kenne. Vielleicht ist es den Pflanzen aber auch recht, wenn ich sie nicht bei ihrem Namen nennen und sie magisch beeinflussen kann. An die magische Manipulation der Landschaft hat der Warnhinweis auf der Tafel nicht gedacht, wenn sie daran erinnert, dass von hier nichts verändert oder mitgenommen werden darf. Zwischen Bäumen und Blüten recken die Gräser ihre Blütenstände kniehoch in den Wind. Sie leuchten in verschiedenem Grün, und wuchern über die gelben und violetten Blüten, über die vielen weißen Flecken, die mit dem dichten Unterholz konkurrieren. Die Luft zwischen den Bäumen am Ufer der Löbauer Wasser riecht erdig, ein wenig modrig. Am Wasser ist es feucht und schwül, und mein Hemd klebt schnell am Rücken, obwohl es nicht mehr regnet. Die Luft quillt über von der verdunstenden Feuchtigkeit, die im kühlen Schatten nicht so schnell aufsteigen kann, wie oben, am Rand der Schlucht. Sonnenlicht, wenn überhaupt vorhanden, dringt nur gedämpft hinab bis auf den Grund. Ich gehe durch dunkelgrün gesprenkeltes Braun, bin ganz gefangen von der Intensität der Natur, um mich herum. Vogelstimmen, die nicht aufhören zu tirilieren, dazwischen ein Kuckuck, das Hämmern eines Spechts von ferne und der warnende Ruf eines Eichelhähers, der mich gleich am Eingang in die Schlucht angekündigt hat. Den Gesang der meisten Vögel kann ich nicht zuordnen.
Der Waldweg biegt unvermittelt an einer Holzbrücke ab, die aus einem halbierten Baumstamm besteht, und hinüber aufs andere Ufer führt. Ein Geländer auf beiden Seiten, hüfthohe Zäune aus Ästen gefügt. Ein komfortabler Übergang über den breiter gewordenen Fluss; nur für Spaziergänger, Wanderer und Pilger geeignet.
Der Wasserstand ist in diesem Frühjahr niedrig. Auf der anderen Seite gibt nur noch die flache Uferböschung. Der Wald hat einen schmalen Saum mit großen Findlingen freigelassen, über die vor mir schon andere gegangen sind. Ein Saumpfad, immer nah am Ufer entlang, nach dem Regen glitschig und abschüssig. Die Erosion des Uferbereichs hat die Wurzel großer Bäume freigelegt, die runzeligen Gesichtern gleich ins Freie starren.
Ich suche mir meinen Weg auf dem ausgetretenen Trampelpfad, klettere über kantiges Geröll und balanciere an schrägen Stellen am Wasser entlang, das lässig neben mir plätschert und gurgelt, ohne Gedanken an den Narren, der an seinem Ufer entlang turnt. Die Zeit steht still, während meiner Safari durch diesen Miniatur-Urwald. Die Atmosphären der Gröditzer Skala löschen jede rationale Betrachtung aus, der Augenblick des Erlebens ist unvermittelt emotional. Um ein Land kennen zu lernen, schrieb der englische Schriftsteller Lawrence Durrell, braucht man nur ein wenig Geduld, beschauliche Ruhe und einen Ort, an dem man die geflüsterte Botschaft des Landes hören kann. Die Schlucht bei Gröditz ist ein solcher Ort.
Die Schlucht weitet sich zu einem kleinen Auenwald, durch den die Löbauer Wasser etwas gemächlicher fließt, nur um etwas weiter abwärts wieder schmaler zu werden. Der Weg verschwindet auf dem felsigen Untergrund, der steiler abfällt. Ich klettere über Felsen und einen durch Steinschlag halb verschütteten Weg. Es riecht noch immer nass und erdig, der Boden ist rutschig und uneben, und von den Bäumen tropft restlicher Regen.
Abrupt endet die Schlucht auf einer sauber gewaschenen Wiese. Es ist vorbei. Die Wirklichkeit hat mich wieder, jedenfalls fühlt es sich so an. Etwas in mir ist geplatzt, ich rutsche aus und falle ins nasse Gras. Es bedarf nicht mehr als eine tückische Bodenwelle, und mein rechtes Hosenbein ist grasgrün gefärbt und durchnässt. Dann sehe ich den Zaun, und die eingesperrten Schafe. Brutal reißt mich die Szenerie aus meiner Illusion einer unberührten Natur. Jenseits des Zauns glotzen die Schafe, die anscheinend nicht glauben wollen, was sie sehen. Sie sind genau überrascht wie ich, mich plötzlich auftauchen zu sehen. Der Zaun erscheint mir nach so viel vermeintlicher Wildnis wie ein Sakrileg. Es braucht wohl einen Stadtmenschen wie mich, um der Natur so naiv gegenüberzustehen, um für einen Augenblick überwältigt zu werden. Ich kann mir nicht viele andere Landschaften vorstellen, die mich so ergreifen können.
Ich bin im kleinen Ort Gröditz. Zurück in der Zivilisation! Ich hangele mich am Zaun des Geheges entlang, noch ganz gefangen von dem Eindruck, den die Skala auf mich gemacht hat. Eine gepflasterte Straße führt steil zwischen Häusern aus der Schlucht heraus und hoch in den Ortskern. Ich blicke um mich, und kann zwischen den wenigen Häusern weit in die Mittelgebirgslandschaft der Lausitz sehen, bis hinüber zu fernen, vom Dunst halb verhangenen Bergen. Auf einer feuchten Holzbank am Rand des Dorfangers lege ich eine Rast ein. Ich muss meine Sinne einsammeln, meine Gefühle fassen, und in die Realität zurückkommen. Die Gröditzer Skala wirkt noch immer nach. Ich lösche meinen Durst, versuche etwas trockener zu werden, breche aber schneller wieder auf, als mir lieb ist. Alles ist feucht, und zwischen den Häusern und über den hochgelegenen Markt fegt ein kalter Wind. Niemand ist auf der Straße, und Gröditz wirkt unwirklich, wie im Schlaf, hinter einer hohen Hecke.
Es ist es Zeit, nach Nechern weiterzugehen. Unterwegs ruft mir ein Mann, der in einem Baumstück arbeitet, ein Hallo zu. Er macht das immer, sagt er mir, wenn er einen Pilger sieht. Sie interessieren ihn, die unterschiedlichen Menschen, die vorbeikommen. Sie sind die einzige Abwechslung in Gröditz. Er unterhält sich gerne mit ihnen, will wissen, was sie umtreibt. Er ist in Gröditz geboren, und das Grundstück wurde ihm erst nach der Wende zugesprochen. Ganz verstanden hat er das nicht. Er wusste nicht, dass er Landbesitzer ist. Er ist einer von den vielen, die durch die Machenschaften der Treuhand ihre Arbeit verloren haben. Jetzt pflanzt er verschiedene Bäume und freut sich daran, die Natur zu fördern. Einen Vorteil oder Gewinn für sich erwartet er davon nicht. Er ist geschwätzig, und ich nutze die Gelegenheit, mir von seiner Heimat erzählen zu lassen. Gröditz heißt sorbisch Hrodźišćo, was ich nicht aussprechen kann, auch wenn ich mich bemühe. Er sagt es mir mehrfach vor, und wir amüsieren uns über meine hilflosen Versuche, den richtigen Ton zu treffen. Schließlich buchstabiert er mir den Namen. Die Konsonantenhäufung des Sorbischen strapaziert meine Artikulation, was den Mann am Zaun köstlich unterhält. Er erzählt mir von seinem Dorf am Rand des Oberlausitzer Gefildes, nicht weit entfernt von Bautzen, eine fruchtbare, hügelige Gegend zwischen Mittelgebirge und Flachland. 1964 hatte die Gemeinde Gröditz noch 700 Einwohner; heute leben hier nur noch 450 Menschen, 246 davon im Dorf. Die Häuser des 200 Meter hoch gelegenen Ortskerns in Rundweilerform, mit Kirche, Dorfplatz und Schloss, ziehen sich entlang zweier Straßen bis ans Löbauer Wasser. Gröditz ist eine der ältesten Siedlungen in der Oberlausitz; als Gradis, die Burg, bereits 1222 erwähnt. Im 8. Jahrhundert hatten die slawischen Milzener, Vorfahren der rezenten Sorben und aus Polen eingewandert, einen noch immer sichtbaren Burgwall über das Löbauer Wasser angelegt. Sie gründeten kleine Siedlungen in der Oberlausitz, im Offenland und den Flusstälern, und machten Bautzen zu ihrem Fürstensitz. Nach dem Wiener Kongress wurde Gröditz zum Grenzort zwischen Preußen und Sachsen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erhielt der Ort einen eigenen Bahnhof und den zehnbogigen Viadukt über das Löbauer Wasser, über den heute der Radweg nach Wuischke führt, über dessen Sandboden ich eben noch gewandert bin. Bis 1994, ein paar Jahre nach der Wende, war Gröditz mit den Ortsteilen Cortnitz, Weicha und Wuischke eine eigenständige Landgemeinde, die 1994 ins benachbarte Weißenberg eingemeindet wurde. Bis nach Nechern, sagt er mir zum Abschied, ist es nicht mehr weit. Aber die Zimmer auf dem Bauernhof Wujanz sind nur mittelprächtig. Die Riegel-Mühle, am Ortsrand von Nechern, muss ich mir dagegen unbedingt ansehen; sie ist etwas ganz Besonderes, ein technisches Denkmal und erst neulich restauriert. Wenn man durchs Fenster schaut, sieht man das historische Mahlwerk. Über uns fliegt ein Schwarzspecht, und auch der Kuckuck ist wieder da. Er ruft mich von gegenüber zum Aufbruch. Erst später fällt mir auf, dass der Mann keinen einzigen Obstbaum gepflanzt hat. Danach hätte ich ihn fragen sollen, wo doch so viele Obstbäume in der ehemaligen DDR die Feldraine säumen. Kurze Zeit später stehe ich vor der 1583 erbauten Mühle, einst Mehlmühle und Sägewerk. Sie besitzt ein großes Wasserradhaus mit Ziegelgewölbedecke, das mir von dem leutseligen Mann empfohlene, technische Denkmal.
Entgegen meiner Erwartung ist die Mühle bewohnt, und seit 1995 durch eine LPG wieder in Betrieb genommen. Eins der großen Gebäude besitzt zahlreiche Fenster in denen Licht brennt. Ich weiß nicht, in welches der Fenster ich hineinschauen soll, und was dahinter ist. In manchen Fenstern hängen Gardinen, stehen Pflanzen in Töpfen zwischen mancherlei Krimskrams auf den Fensterbänken. Es fühlt sich indiskret an, neugierig zu sein, und in Küchen und Wohnzimmer zu spähen, in denen die Menschen leben, nur um ein technisches Wunderwerk zu bestaunen. Die Gröditzer Skala hat sich noch immer nicht von mir verabschiedet.
Nechern ist klein, und der Wujanz-Hof nicht zu verfehlen. Viele Häuser gibt es nicht im Dorf. Schon an der Hofeinfahrt sehe ich die Tafel: Zimmer frei; Ferien auf dem Bauernhof. Der Hof der Wujanz ist ein quadratischer, gepflasterter Innenhof, an drei Seiten von Gebäuden umgeben. Die Straßenseite begrenzt eine Steinmauer, in die ein eisernes Tor eingesetzt ist. Jenseits der Stallungen stehen Spielplatzgeräte auf einer großen Streuobstwiese. Das Ensemble wirkt ein bisschen verwahrlost, und der Hof ist verlassen, als sei niemand zu Hause. Kein geschlossenes Tor, kein bellender Hund. In einer der beiden Garagen klappert es. Ein alter Mann mit kleinem Hut und Arbeitsjacke werkelt an einem vorsintflutlichen Traktor, den ich eher in einem Technikmuseum vermutet hätte. Ich rufe mehrmals, klopfe laut, aber der Alte ist schwerhörig und ohne Hörgerät unterwegs. Als er mich endlich wahrnimmt, erzählt er mir stolz, er sei dreiundachtzig Jahre alt und müsse jetzt aufs Feld hinaus. Noch jemand, denke ich, der nicht loslassen kann. Es ist niemand zu Hause, fährt er fort. Seine Tochter ist in die Stadt gefahren, kommt aber bald zurück. Ich soll mich auf die Bank setzen, die neben der Haustür steht, und warten. Doch er kommt noch einmal zurück, denn ihm ist inzwischen eingefallen, dass seine Enkelin zu Hause ist. Die Enkelin ist bemüht, will mich nicht vor der Türe sitzen lassen. Sie weiß aber nicht, ob Zimmer reserviert sind, und ob heute noch andere Gäste kommen. Kurz entschlossen quartiert sie mich ins Notzimmer ein, etwas mehr als eine Rumpelkammer, und erfüllt damit die Prophezeiung des Gärtners von Gröditz. Es riecht muffig im Raum, und die Einrichtung und Atmosphäre erinnern mich an meine Kindheit im katholischen Alltag der 1950er Jahre. Übergangslos stürze ich in die Zeit zurück, in die Erinnerung an meine Familie und ihr normiertes Leben. Bad und Toilette gibt es nur in der ersten Etage, sagt die Enkelin. Ob es mir etwas ausmacht, beides zusammen mit der Familie zu benutzen? Kein Problem, denke ich, als Kind musste ich auf eine Außentoilette. Immerhin hat mein heutiges Quartier ein Radio.
Ich stehe auf Füßen, die so schmerzen, dass ich kaum auftreten kann. In meinen Oberschenkeln zieht es unangenehm. Die Missempfindungen dämpfen meine Freude auf die nächste Etappe meiner Fußreise. Ich gehe schlecht auf meinen Füßen und nur humpelnd ins Bad. Wir reisen nicht nur an andere Orte, sondern vor allem reisen wir in andere Verfassungen der eigenen Seele, meint Werner Bergengruen, und ich frage mich, ob er dabei auch an anderen Verfassungen des Körpers gedacht. Es ist nicht allein das Spirituelle, auch das leibliche Spüren und die körperliche Anstrengung beeinflussen meine Stimmung. Doch ich will ihn nicht zu wörtlich nehmen, denn sein spirituelles Niveau hat das Körperliche anscheinend schon überwunden. Auf mich trifft das nicht zu.
Es war eine gute Idee, der Familie gestern zugesagt zu haben, heute Morgen um sieben Uhr mit ihr zu frühstücken. Zusammen mit der Bäuerin und ihrem schwerhörigen Vater, der mich gleich erkennt und freudig begrüßt, sitze ich am reich gedeckten Küchentisch. Sein Hörgerät hat er wieder nicht dabei, was der Bäuerin nicht gefällt. Ihr Mann, der Bauer, und die jüngste Tochter sind bereits aufgebrochen; er aufs Feld, sie zur Arbeit nach Bautzen. Wir unterhalten uns über Dies und Das. Die Bäuerin will wissen, wo ich herkomme. Berlin wird zum Thema, die eigenen Kinder, die unterschiedliche Atmosphäre von Stadt und Land. Die Landbevölkerung sagt sie, fühlt sich abgehängt. Die Arroganz des Städters ist oft unerträglich. Sie vermittelt mir das Gefühl: Wer auf dem Land lebt, hat es irgendwie nicht geschafft. Ich denke, dass hat politische Konsequenzen. Der Altbauer ist ganz Ohr, und scheint, trotz seiner Schwerhörigkeit alles mitzubekommen. Er war früher oft in Berlin, erzählt stolz, ganz weltgewandt; Ost-Berlin versteht sich. Die Bäuerin kontert, die nach der Wende gewonnene Reisefreiheit nutzt sie überhaupt nicht. Ihren Urlaub verbringt die Familie, wie schon zu DDR-Zeiten, immer noch in Rumänien oder Tschechien. Da kennen sie sich aus, da kennen sie Land und Leute. Nur die Kinder, die machen das anders, und erkunden die Ferne. Sie erzählt vom Stadtfest am kommenden Wochenende in Bautzen. Ein Rummel, meint sie, der nicht lohnt. Da gibt es nur noch Konsum und Kommerz, die die Traditionen verdrängt haben. Sie erzählt mir von zwei anderen Pilgern, einem Dänen aus Bremen, der dort mit Suchtkranken arbeitet, zusammen mit seiner Frau.
Gestern Morgen sind die beiden nach Bautzen aufgebrochen. Vielleicht treffe ich sie, denn sie gehen nur kurze Strecken, weiß die Bäuerin zu berichten. Noch während sie erzählt, erinnert sie sich an einen achtzigjährigen Mann, den sie in der Familie den Profi-Pilger nennen. Er wandert mit kleinem Rucksack, ohne Schlafsack oder Iso-Matte. Eine Decke für die Nacht, hat er ihr verraten, bekommt er überall. Er schläft auch draußen, wenn es sein muss. Oft wird er als Vagabund angesehen. Selbst seine Zahnbürste sei abgesägt, berichtet die Bäuerin nicht ohne Stolz, solche Geheimnisse zu wissen. Im Winter pilgert er in Spanien, im Sommer in Deutschland. Bewunderung, und etwas, das wie Neid klingt, liegt in ihrem Blick, als wünscht sie sich, ebenso frei und ungebunden zu sein. Ich glaube nicht, dass sie auch an die Strapazen und Unwägbarkeiten einer ewigen Pilgerschaft denkt. Es sind das Außergewöhnliche und Abgründige dieser Lebensweise, die sie faszinieren. Sie erzählt, als habe sie alles in einem Buch gelesen, über den ewigen Juden, eine Figur aus einer 1602 entstandenen, christlichen Legende. Der Schuhmacher Ahasver, ein Ketzer, der um das Jahr 30 in Jerusalem gelebt haben soll, war an der Verurteilung und Kreuzigung von Jesus von Nazareth beteiligt. Er soll es gewesen sein, der das Volk mit Kreuzige ihn! aufgestachelt und ihm auf dem Weg nach Golgata die Rast an seiner Tür verweigert hat. Jesus hat ihn deshalb verflucht, wie die Legende erzählt, und zu ihm gesagt: Ich will stehen und ruhen, du aber sollst gehen! Mit diesem Fluch wurde Ahasver zur ewigen Wanderschaft durch die Zeit verdammt, ohne sterben zu können. Seitdem wandert er durch alle Länder, wo ihn immer neue Zeugen sehen und mit ihm reden. Frau Wujanz ist Bäuerin und sesshaft, mir hat sie nicht die Tür gewiesen, und nur eine Aufwandentschädigung genommen. Ihr Leben folgt anderen Regeln und Rhythmen. Der Großvater ist mittlerweile schweigsam geworden. Ich frage mich, was er von all dem verstanden hat.
Tausend Pilger pro Jahr wurden in den Herbergen in der Region von Weißenberg gezählt. Im Gästebuch der methodistischen Gemeinde in Görlitz stammt der erste Eintrag aus dem Jahr 2009. In den sieben Jahren bis jetzt sind ungefähr siebentausend Pilger über die Via Regia gewandert und haben ihren Proviant in den Dörfern gekauft, und dort übernachtet. Ein touristisch nicht uninteressanter Wirtschaftsfaktor für die Region. Tourismus und Pilgerschaft, auch das gehört zusammen.
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