Dienstag, 22. April 2025

Eine Pilgeroase in Crostwitz


Ich folge meinen Träumen, sonst ist mein Leben wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln.


Ich verabschiede mich früh von Astrid und Allan, meinen beiden Mitpilgern, mit denen ich mir das Petri-Zimmer geteilt habe. Sie stehen gerade erst auf, als ich aufbreche. Wir saßen gestern Abend noch lange zusammen, eine Flasche Wein lang, und erzählten uns Geschichten von Reisen: Erlebnisse und persönliche Legenden, wie das Wanderer eben tun. Jede Begegnung, die unsere Seele berührt, hinterlässt eine Spur, die nie ganz verweht. Wie recht, denke ich, als ich die Treppe nach unten nehme, hat Lore-Lillian Boden, als mir der gestrige Abend wieder in den Sinn kommt. Es sind immer nur Fragmente, aus einem persönlichen Mosaik genommene, glänzende Steinchen, die sich zwischen anderen, inneren Sedimenten abgelagert haben. Trotzdem werde ich die beiden nicht vergessen. Dafür ist die emotionale und geistige Gespanntheit einer Fußreise zu intensiv.
Unten auf dem Hof kommt ein Offizieller der Kirchengemeinde mit dem Fahrrad zur Arbeit, und reißt mich aus meiner romantischen Stimmung. Er spricht mich auf die beiden an, fragt, ob sie noch da sind, und regt sich darüber auf, dass sie zwei Tage in der Herberge übernachtet haben. Das gehe nicht, ist weder üblich noch erlaubt. Er bekommt Schwierigkeiten mit den gewerblichen Anbietern, wenn die das erfahren. Die Pilgerherberge ist nur deshalb kostenlos, weil sie keine touristische Einrichtung ist. Das weiß doch jeder, dass sie nur für eine Nacht genutzt werden darf. Ich murmele etwas von Bautzen sei doch viel zu schön für einen Tag, unnötigen Regeln, und ziehe meines Wegs. Seine schlechte Laune kann mich mal. Was ist schon gegen eine Ausnahme einzuwenden?

Ich habe selbst schon mit dem Gedanken gespielt, einen Tag länger zu bleiben, und fühle mich spontan mit den Zurechtgewiesenen solidarisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es der Kirche schwerfällt, sich gegenüber kommunalen, wirtschaftlichen Profitinteressen durchzusetzen. Doch im 21. Jahrhundert hat Pilgern etwas mit Tourismus zu tun, das ist nicht abzustreiten. Zumindest erklärt es das oft nur halbherzige Engagement für den Pilger, dessen Fußreise alles andere als bequem oder luxuriös ist.
Ich finde den Pilgerweg nicht sofort, Markierungen gibt es keine, und ich muss mehrmals nach dem Weg fragen. Wie üblich werde ich in verschiedene Richtungen geschickt, laufe den Altstadtfelsen gleich mehrfach hinauf und hinunter, bis ich unerwartet wieder auf die Via Regia treffe. Zwischen Spree und äußerer Stadtmauer verlasse ich Bautzen. Am Stadtrand treffe ich meine Mitpilger wieder, die an einer Kreuzung stehen, und ihre Karte befragen. Ein kurzes Hallo und jeder zieht seiner Wege. Ich gehe die langsam ansteigende Straße voraus, die von Bautzen nach Salzenfurt führt. Schon bald habe ich Astrid und Allan hinter mir aus den Augen verloren.
Salzenfurt ist ein Straßendorf an einer Kiesgrube, wo der Pilgerweg die Landstraße verlässt. Am Friedhof, der außerhalb des Ortes liegt, raste ich auf einer Bank in der Sonne. Meine Mitpilger sind verschwunden, überholen mich nicht, und ich wundere mich, wie lange die beiden brauchen, mich einzuholen. Haben sie Probleme, abgebrochen oder ein Auto angehalten? Fürs erste habe ich sie anscheinend verloren. Schließlich breche ich zum Millenniumsdenkmal, das ich gestern auf einem Foto gesehen habe. Ich bin neugierig geworden. Heroisch die Pose der beiden Männer, die dort geehrt werden. Ich setze einen Schritt vor den anderen, auf asphaltierten Straßen, durch kleine Dörfer und vorbei an Feldern, deren Monotonie ihnen selbst langweilig sein muss. Jeder einzelne der acht Kilometer bis zum Denkmal ziehen sich gefühlt endlos dahin. Ich gehe wie ferngesteuert, wie in einem Tunnel, und bringe die Straße ohne Pause hinter mich. Später erinnere ich mich an nichts mehr. Zuletzt steuert die Straße auf einen Hügel zu, auf dem mir das Denkmal schon von weitem vor Augen steht.
Die Skulptur der beiden heiligen Missionare der Slawen, die auf einem rechteckigen Sockel stehen, rückt näher und näher, bis die beiden Bekehrer weit in den Raum hinausgreifend über mir aufragen. Das sogenannte Jahrtausenddenkmal haben katholische Sorben im Jahr 2000 als Dank für das Geschenk des christlichen Glaubens errichtet. Die aus Kupferblech getriebenen Figuren des Kunstbildhauers Droboslaw Bagínski aus Lubin stellen die Slawenapostel Cyrill und Methodius dar, die im 9. Jahrhundert das Evangelium den Slawen im Großmährischen Reich, zu dem auch die Vorfahren der Sorben gehörten, verkündeten. Sie schufen die slawische Schriftsprache, übersetzten die Bibel und feierten bereits damals die Liturgie in der Volksprache. Die herausragende Bedeutung der beiden Missionare veranlasste Papst Johannes Paul II. sie zu Mitpatronen Europas zu ernennen. Die alte Handelsstraße, die über die Anhöhe führt, ermöglichte früh den Kulturaustausch unter den Völkern Europas. Das Denkmal will, so heißt es auf der Info-Tafel, dazu aufrufen, uns auf den Weg zu machen zu einem geeinten Europa und den christlichen Glauben auch im dritten Jahrtausend zu bekennen. Dass das eine auch ohne das andere geht, scheint für die Sorben keine Option zu sein, und ich frage mich wie schon oft, warum die humanistische Ethik trotz ihres religiösen Fundaments nicht populärer ist. Es ist an der Zeit, diese Frage auch außerhalb philosophischer Publikationen zu stellen, damit es endlich Frieden in der Welt geben kann. Als Europäer habe ich über ein halbes Jahrhundert ohne Krieg erlebt, und mir ist bewusst, dass ich ein Privileg genieße, das mit zahlreichen Stellvertreterkriegen in aller Welt erkauft wird. Oben auf dem Hügel steuere ich die einzige Bank im Schatten an, lege alles ab, einschließlich meiner Schuhe und Strümpfe, um meine heiß gelaufenen Füße zu kühlen.

Eine längere Pause, ein Imbiss, ein Nickerchen auf der Bank. Mehrmals kommen Besucher vorbei, werfen einen kurzen Blick auf mich und das Denkmal und fahren weiter. Von irgendwoher kommt ein Mann zu Fuß, in kurzärmeligem Hemd, eine Mappe unter dem Arm. Er wirkt geschäftsmäßig, vielleicht ein Offizieller irgendeiner Behörde. Er umrundet die Heiligen mehrmals, schaut in jede Ecke und inspiziert die Umgebung des Denkmals gründlich. Ich erwarte jeden Moment, dass er seine Mappe öffnet, und sich Notizen macht. Er verdächtig mich, ein Pilger zu sein, worüber ich mir selbst noch immer nicht klar bin, und ruft mir von weitem ein Buen Camino zu. Gleich darauf ist er wieder verschwunden, und kurz darauf sehe ich ihn die Allee nach Crostwitz hinuntergehen.
Meine Mitpilger kommen im Gänsemarsch vorgebeugt den Hügel hinauf, kämpfen sich die letzten Meter zum Denkmal hoch. Ein distanziertes Hallo, als ob die beiden sich selbst genug sind. Sie fotografieren sich vor der Infotafel, werfen im Vorübergehen einen Blick aufs Denkmal, und ziehen weiter, während ich noch immer auf der Bank faulenze. Mein Sohn ruft mich im richtigen Moment an, um mir zum Geburtstag zu gratulieren. Ich bin allein unterwegs, und er macht sich Sorgen um mich, weil er nichts von mir gehört hat. Seine Fürsorglichkeit rührt mich, die ich eher von meiner Tochter erwartet hätte. Mich freut seine Zuwendung, die wieder zeigt, wie erwachsen er geworden ist. Der große Platz vor dem Denkmal bleibt leer. Ich folge den Spuren des Mannes mit der Mappe, umrunde die beiden Heiligen, und schaue mir die Anlage an, in dessen Schatten ich die letzte Stunde verbracht habe. Das Denkmal, auf dem die beiden Männer mit ausgebreiteten Armen stehen, ruht auf einem Sockel aus übereinandergeschichteten, grauen Steinen. Rechts davon steht ein Altar in Form eines weißen, wuchtigen Kreuzes. Entschlossen, mit von ihrem Auftrag erfüllten Blick, schauen die Missionare hinunter in die Ebene nach Bautzen. Zu ihren Füßen versinken zahlreiche Kreuze im Boden.
Ich bin in einer katholischen Landschaft, seit Jahrhunderten mit religiöser Symbolik vertraut. Am Fuß des Hügels, wo die Via Regia nach Crostwitz abbiegt, steht das erste der vielen vergoldeten oder bunt bemalten Wegkreuze, an denen ich in den nächsten Tagen vorbeiwandere. Solche Kreuze sind für die Landschaft der katholischen Sorben charakteristisch.

Mich erinnern sie an die Bilderstöckchen des Aachen-Kölner-Raums, die dort überall an den Wegen, an Kreuzungen und Feldrainen stehen. Magischer Schutzzauber im katholischen Gewand. Manchmal bedauere ich es, dass der Protestantismus dem Katholizismus das Geheimnisvolle der in den Raum ergossenen Atmosphären ausgetrieben hat, dass die lateinische Liturgie meiner Kindheit noch besaß. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich diese Aura des Raums als unheimliche, in der Luft liegende Stimmung in der Nähe eines balinesischen Tempels erlebt, der zum Kult der Rangga gehörte.
Bis Storcha, sorbisch Baćoń, Storch, einer kleinen, fast rein sorbischen Gemeinde, komme ich an weiteren Wegkreuzen vorbei, deren golden glänzende Kruzifixe in der Sonne leuchten. Den Sockel der Kreuze illustrieren goldgefasst Szenen aus dem Neuen Testament. Außer den Kreuzen gibt es farbig gestaltete Bildsäulen, häufig mit der Figur eines Heiligen, der auf der Spitze der Säule thront, und dessen Identität mir verborgen bleibt. Die Säulen sind Stiftungen der Dankbarkeit für eine Rettung aus höchster Not. Sie alle, Kreuze und Bildsäulen, wurden im 19. Jahrhundert aufgestellt. Sie werden gepflegt, und sind in gutem Zustand. Von der Fassade der neugotischen Herz-Jesu-Kirche fauchen mich geflügelte Dämonenhunde aus dem mittelalterlichen Bestiarium an, aus deren Rachen das Regenwasser abfließt. Andere apotropäische Symbole, die das Böse mit seiner eigenen Hässlichkeit erschrecken sollen, und die dem Schutz des sakralen Raums dienen.

Die Oberlausitz zwischen Bautzen und Kamenz ist das Kernland der Sorben oder Wenden, wie sie auch genannt werden. Ethnisch gibt es keinen Unterschied. Den Wenden begegnete ich erstmals literarisch, vor langer Zeit in Otfried Preußlers Jugendroman Krabat, einer Sage, mit latent indo-europäischer Symbolik, die in verschiedenen Versionen vorliegt.
Das Dorf Nebelschütz, oder Niebielčicy, besteht seit 1304 und hat knapp 2000 Einwohner, von denen zwei Drittel sorbisch sprechen. Der Ort liegt am Schnittpunkt von drei Naturräumen: nach Nordosten erstreckt sich die ebene Oberlausitzer Heide, ein Teichgebiet mit reichem Fischbestand und zahlreichen Angelmöglichkeiten, im Südosten die flachen Wellen des Oberlausitzer Gefildes und im Westen das Westlausitzer Hügel- und Bergland. Ursprünglich gehörte das Dorf den begüterten Herren von Kamenz, aber auch das sächsische Adelsgeschlecht der von Metzradt, die zum Oberlausitzer Uradel gehören, soll zeitweise Besitzer von Nebelschütz gewesen sein. Auch die Zisterzienserinnen des nahegelegenen Klosters Sankt Marienstern waren einst Nutznießer der landwirtschaftlichen Produktion von Nebelschütz, das ihnen von Beginn des 16. Jahrhunderts bis zur Ablösung der Grundherrschaft 1832 ganz gehörte. Nur aus diesem Grund ist die Bevölkerung des Ortes auch in der Reformationszeit katholisch geblieben. Mitten im Ort, an der Via Regia, steht eine Steinskulptur, die einen gewissen Krabat, ein Mann mit beeindruckendem Schnauzbart darstellt, der auf den Krabat-Radrundweg (Kolesorwarski pucik) hinweist.

Krabat ist populär in den sorbischen Landen, und durch den Roman von Otfried Preußler und einer aktuellen Verfilmung von Marco Kreuzpaintner inzwischen weit über die Oberlausitz hinaus bekannt geworden. In den ältesten Versionen der Sage, etwa bei dem sorbischen Volkskundler Joachim Leopold Haupt, ist Krabat noch der böse Herr von Groß-Särchen. Eine Info-Tafel in Nebelschütz verrät dem neugierigen Passanten ein interessantes Detail der Krabat-Überlieferung: Krabat machte sich eines Abends dringend mit seinem Pferdegespann von Särchen in Richtung Dresden zum Schloss des Kurfürsten auf. In Eile ließ er die Kutsche samt Pferden über die Wolken reiten und überquerte dabei Nebelschütz bis hin nach Kamenz; ein Motiv, das unverblümt auf das Geisterheer der Wilden Jagd anspielt, angeführt von Óðinn-Wodan in seiner Rolle als Psychopomp, der die Seelen unvorsichtiger Wanderer einsammelt. Man erzählt sich auch, dass Krabat auf seinem Weg nach Dresden an der Kirchturmspitze der Hauptkirche von Kamenz, St. Marien, mit seiner Kutsche im Flug hängenblieb, die seitdem etwas schief ist. Im Verlauf der volkstümlichen Überlieferung, sicher auch durch das Bemühen des Christentums, heidnische Bräuche zu umzuwidmen, wird Krabat immer mehr zu einem Eulenspiegel, allmählich zu einem guten Herrn, der seine Künste zum Nutzen der Menschen oder zum Schabernack einsetzte. In die Mythenabbrevation der Krabat-Sage hat sich ein quasi-historischer Kern eingeschlichen. Der Name soll von Hrvat, südslawisch Kroate, abgeleitet sein und auf einen Reiterobristen namens Johannes Schadowitz zurückgehen, der aus Kroatien stammte. Kurfürst Johann Georg III. von Sachsen hat ihn bei seiner Rückkehr von einem Feldzug gegen die Türken im Jahr 1691 mitgebracht, weil dieser ihn vor der Gefangennahme durch die Türken bewahrt haben soll. Zum Dank schenkte ihm der Kurfürst das Gut Groß Särchen vor den Toren der Stadt Hoyerswerda. Im Volksmund wurde er wegen seiner fremden Herkunft, seines Aussehens und seiner Eigenarten als Zauberer angesehen und Krabat genannt.
Otfried Preußlers Jugendbuch Krabat, erschienen 1971, ist nur eine literarische Version dieser sorbischen Sage, allerdings die bekannteste einer Gruppe literarischer Bearbeitungen dieses Sagenstoffs mit einer bemerkenswerten Reihe unterschiedlicher Variationen. Preußler schrieb mit Unterbrechungen zehn Jahre an seinem Roman, in dem ein óðinnischer Müller während des Dreißigjährigen Kriegs in der Gegend um Kamenz magische Manipulationen vornimmt. Als Vorlage diente ihm die sorbische Überlieferung von einem unheimlichen Müller in der Heidemühle bei Schwarzkollm, Čorny Cholmc, östlich von Hoyerswerda.
1954 veröffentlichte Měrćin Nowak-Njechorński (seit 1958 Martin Nowak-Neumann) den Roman Mišter Krabat (dt. Meister Krabat, der gute sorbische Zauberer), der dieses Thema zum ersten Mal im 20. Jahrhundert für ein breites Publikum in sorbischer Sprache behandelte. Seine Suche nach Wissen führt den armen Betteljungen Krabat, der die Armut seiner Familie lindern will, zu dem Müller, der einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat. Jedes Jahr muss einer seiner zwölf Gesellen sterben, damit er selbst ewig leben kann. Der Müller unterrichtet Krabat in Schwarzer Magie, der ihn schnell überflügelt. Schließlich stiehlt er ihm sein Koraktor, eingeprägte Schriftzeichen, ein Sammelname für Zauberbücher in den Sagen der Oberlausitz. Am Ende des ersten Lehrjahres flieht Krabat zu seiner Familie. Er vereinbart mit seiner Mutter, dass sie ihm vom Müller freibittet, was ihr auch gelingt. Die Rockband ASP, die ihren Stil als Gothic Novel Rock bezeichnet, hat sich in ihrem Album Zaubererbruder – Der Krabat-Liederzyklus ebenfalls der Krabat-Thematik angenommen. In ihrem Song Krabat setzten sie 2008 die Art und Weise des Unterrichts des Müllers der Heidemühle lyrisch ins Bild:

Sein Blick fährt mir durch Mark und Bein
Mit einem Auge nun erfasst er
Dich, du willst vor Angst vergehn
Das andre unter einem Pflaster
Schwarz und kann doch alles sehn
Ich komme mir so schrecklich nackt vor
Zauberspruch um Zauberspruch
Liest er uns vor aus dem Koraktor
Weiße Schrift im schwarzen Buch

Und mir sprießen Rabenfeder
Und so flieg ich unerkannt
Über Grenzen in das Leben
Wie der Wind schnell übers Land
Und ich breche alle Regeln
Um heut Nacht bei dir zu sein
Fühl mein Rabenherz, es schlägt so
Schnell und nur für dich allein

1968 variiert das Jugendbuch Čorny młyn (dt. Die schwarze Mühle), des sorbischen Schriftstellers Jurij Brězan die Version von Nowak-Njechorński nur geringfügig, die er auch ins Deutsche übersetzt hat. In seiner neuen Krabat-Erzählung richtet er den Fokus seiner Bearbeitung ganz auf eine These: Wissen ist Macht und Macht macht frei. Jahre später, 1976, schreibt Brězan einen zweiten, diesmal fiktiven, von der sorbischen Sage nur noch inspirierten Roman Krabat (dt. Krabat oder die Verwandlung der Welt), der in obersorbischer und deutscher Sprache erscheint: Der sorbische Biologe Jan Serbin bringt es mit seinen Forschungen zur Genetik zu Weltruhm und erhält für seine Methode, Menschen genetisch so zu verändern, dass sie negative Verhaltensweisen wie Gier und Selbstsucht bis hin zur Bereitschaft zum Führen von Kriegen verlieren, schließlich den Nobelpreis. In seiner Manie, mit genetischen Methoden eine bessere und friedliche Welt zu schaffen, identifiziert sich Serbin mit Krabat. Die fantastischen Motive der Sage vermischen sich mehr und mehr mit seiner wissenschaftlichen Realität, Raum und Zeit des Plots wechseln ständig zwischen realem und fiktionalem Erleben und Handeln des Protagonisten. Die hybride Persönlichkeit Serbin-Krabat reist auf wissenschaftlicher Mission durch Europa oder wandert wie Peter Schlemihl, nur begleitet von seinem Famulus Jakub Kuschk, durch die Lande, bekämpft, auf der Suche nach dem Glücksland und seiner verlorenen Liebe, seinen Antagonisten, den Grafen Wolf Reissenberg, der den bösen Müller verkörpert. Ein phantastischer, wissenschafts- und sozialkritischer Roman von der Machbarkeit des Möglichen, der Rechtfertigung der Mittel für jeden Zweck sowie der damit verbundenen ethischen Fragestellungen. Und von der engen Verwandtschaft von Wissenschaft und Magie. Wie oft wohl entsteht wissenschaftliche Forschung, insbesondere die naturwissenschaftliche, aus der Magie, und mündet Magie in Wissenschaft. Kunst ist immer das Medium, worin sich beide spiegeln.
Der Film entdeckte das lukrative, von der Literatur breit gefächerte und gut etablierte Sujet bereits 1975 mit dem DEFA-Film Die schwarze Mühle. 1977 und 2008 erschienen zwei weitere Krabat-Filme. Besonders die aktuelle Version dieser Sage, inszeniert von Marco Kreuzpaintner, mit Otto Sander als Erzähler, fand eine weite Verbreitung auf der bundesdeutschen Kinoleinwand. Wie immer bei literarischen Verfilmungen fand auch Kreuzpaintners Film ein vielschichtiges Echo. Während es Otfried Preußler gelang, in dem Film seinen Protagonisten wiederzuerkennen, konnte der Rezensent der FAZ der Verfilmung nichts Gutes abgewinnen. Er kritisierte die mangelnde psychologische Dichte und Komplexität der Charaktere der Buchvorlage. Das Lexikon des Internationalen Films sowie die Filmbewertungsstelle Wiesbaden sprechen von einem Meisterwerk, das die düsteren Züge von Nosferatus Grauen thematisiert, von starkem ästhetischen Willen geprägt, und ein bedrückendes Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse zeigt, in denen sich die Menschlichkeit gegen die Versuchungen dunkler Mächte behaupten muss. Die indo-europäische mythologische Wurzel der Krabat-Sage, der Konflikt Zeus-Prometheus, der sich in der Beziehung von Krabat und dem Müller spiegelt, insbesondere der Raub von Feuer oder Zauberbuch, bleibt dabei unbemerkt. Wie Prometheus ist Krabat ein Menschfreundlicher, dessen ambivalente Motivation, wie Jan Brězans Version am deutlichsten schildert, dem Wohl einer leidenden Menschheit gilt. Das Licht-und-Schatten-Motiv der Krabat-Versionen ist universell. Denn der griechische Zeus ist niemand anders als der nordische Wodan oder Odin. Die Implikationen aufzuführen, die auf eine Initiation in einen kultischen Männerbund hinweisen, verbunden mit dem Motiv der zwölf Raben, führt viel zu weit.

Die Sorben zwischen Bauzten und Kamenz sind ihren Traditionen verbunden, fundamentalistisch und strenggläubig katholisch. Ihr Katholizismus ist getragen von einer eigenen, slawischen Sprache, ihren Überlieferungen und vitalen Trachten, insgesamt kulturelle Elemente, die ihre katholische Frömmigkeit fest im Alltag verankern. Eines dieser Elemente isoliert zu betrachten, ist für sorbische Traditionalisten überhaupt nicht vorstellbar. Es handelt sich nämlich nicht um verschiedene Phänomene, sondern um eine Einheit in der Vielfalt. Der innige Zusammenhang von Sprache, Tracht und Religion, als Brennpunkt und Marker ihrer ethnischen Identität, hat das Überleben dieser Minderheit, durch ständige Anfeindungen hindurch, zuletzt auch durch das System der DDR, überlebt. Aktuell, so höre ich in den Dörfern immer wieder, erlebt das Sorbische in der Oberlausitz eine Renaissance. Selbst nicht-sorbische Eltern fördern ihre Kinder bilingual.

Die Via Regia bleibt auf asphaltierten Wegen und Landstraßen, durch kleine sorbische Dörfer und noch kleinere Weiler nach Crostwitz. Zusammen mit fünf anderen Gemeinden ist Crostwitz im Verwaltungsverband Am Klosterwasser (Zarjadniski zwjazk Při Klóšterskej wodźe) organisiert, benannt nach dem kleinen Flüsschen Klosterwasser, Nebenfluss der Schwarzen Elster, der das sorbische Siedlungsgebiet im Landkreis Bautzen nordsüdlich durchquert. Der Name des Flusses weckt Assoziationen an ein "geistiges" Klosterwasser, aus der Domstadt Köln. Doch er hängt mit dem katholischen Kloster Sankt Marienstern bei Panschwitz-Kuckau zusammen, in dessen Besitz das Gebiet früher war, und wo sich jetzt der Sitz dieser überregionalen Organisation befindet. Dass es in dieser offenen, weit ausgedehnten Landschaft keine Feld- oder Wirtschaftswege geben soll, kann ich nicht glauben. Der Weg muss sich nicht immer an der ursprünglichen Via Regia orientieren, es geht auch parallel, solange die Richtung stimmt. Autoverkehr gibt es kaum, vielleicht alle zwei oder drei Kilometer ein Fahrzeug. Ich begegne niemandem, der zu Fuß unterwegs ist. Schon von weitem sehe ich die Turmspitze der Hauptkirche Sankt Simon und Juda (Thaddäus) und die ersten Häuser des Dorfes. Crostwitz, sorbisch Chrósćicy, liegt zwölf Kilometer östlich von Kamenz, im Südosten des sorbischen Kernsiedlungsgebiets, gleich am 2003 eröffneten Radweg Auf den Spuren des Krabat. Der Rundwanderweg verbindet auf 92 Kilometern viele Schauplätze der sorbischen Sage miteinander. Er beginnt, ganz der Sage verpflichtet, an der Schwarzen Mühle im Koselbruch bei Schwarzkollm, dort wo die Mühle als Kultur- und Veranstaltungsort nachgebaut wurde. Crostwitz ist ein lebendiges Zentrum sorbischer Kultur. Über achtzig Prozent der Bevölkerung sprechen Sorbisch. Überall an den Wegen stehen Kreuze, Betsäulen und sorbisch beschriftete Ortschilder, Geschäfte und öffentliche Gebäude. Die katholische Prägung der Region ist, erstmal in Crostwitz angekommen, nicht mehr zu übersehen. Zweimal jährlich, im Sommer, veranstaltet die Domowina, der Dachverband Lausitzer Sorben, in Crostwitz das Internationale Folklorefestival Lausitz (Mjezynarodny folklorny festiwal Łužica), auf dem Vertreter von sorbischen Volksgruppen und Minderheiten aus aller Welt ihre Trachten, Lieder und Tänze präsentieren. Andere musikalische Traditionen bevorzugt das seit 1997 jährlich Ende des Sommers stattfindende Nukstock Open Air, dass 2024 zum dreiundzwanzigsten Mal stattfand. Das N.O.A. findet auf einer Festivalwiese im benachbarten Nukstock statt, ein regionaler Musikevent im Wacken-Stil mit Metal- und Hard-Rock-Bands, eine kleine, altnative Parallelgalaxis im sorbischen Universum.
In der Nähe von Crostwitz legten Archäologen die Reste einer alten slawischen Burgwallanlage frei, die Kopschiner Schanze. 1225 wurde der Ort als Sitz des Herrn Henricus de Crostiz urkundlich erwähnt. Von den 595 Sorben, die sich in der nationalsozialistischen Volkszählung von 1939 zur wendischen Volkszugehörigkeit bekannten, kamen 364 aus Crostwitz, obwohl dies aufgrund der propagierten Charakterisierung der Sorben als deutscher Stamm ausdrücklich unerwünscht war. In der Region fanden noch schwere Gefechte zwischen der Heeresgruppe Süd, durch einige SS-Verbänden verstärkt, und der 2. Polnischen Armee statt, als anderswo der Zweite Weltkrieg längst entschieden war. Auf einem Hügel erinnert ein Mahnmal an die vielen Opfer. Schon fünf Tage nach Ende der letzten Kampfhandlungen wurde in Crostwitz der sorbische Dachverband Domowina neugegründet. Sorbisch durch und durch!
Obwohl das Ortsschild schon nah ist, weist eine gelbe Muschel unerwartet nach links auf einen Schotterweg. Der ersehnte Feldweg ist nass, die Schlaglöcher lehmige Miniaturtümpel, frisch gefüllt, von anscheinend heftigem Regen. Zuletzt stehe ich an einem matschigen Trampelpfad. Zur Pilgeroase steht einladend auf einem Schild an der Einmündung auf den schlammigen Pfad, der sich zwischen hohen Hecken hindurchschlängelt. Idyllisch, ein schattiges Beige-grün! Der Schlamm, in den ich gerate, ist tief und klebrig, ein lehmig-toniges Sediment, das zäh an meinen Schuhen klebt, die zentimetertief in die nasse Erde einsinken. Schlagartig bin ich zurück in der Realität, und alle Pilgerromantik verfliegt im Nu. Wäre Unlust greifbar, die Luft um mich herum fühlte sich klebrig an. Nach wenigen Schritten umgibt eine dicke Lehmschicht meine Schuhe wie der Teig einen Apfel im Schlafrock. Abschütteln lässt er sich nicht, es wird rutschig und ich verliere das Gefühl für den Boden unter den Füßen. Schnell sind meine Hosenbeine bis ans Knie mit hellbraunen Tupfen gesprenkelt. Im ersten Moment wundere mich, wie der Weg schlammig geworden ist, die wenigen Regentropfen vom Mittwoch sind bei dieser Hitze längst verdunstet, auch im Schatten einer Hecke. Tiefe Spuren im Schlamm erinnern mich an Astrid und Allan, die kurz vor mir hier durchgekommen sein müssen. Während ich durch den Matsch stapfe, freue ich mich auf ein Wiedersehen. Vielleicht sitzen die beiden schon in der Pilgeroase, bei Tee und Keksen, wie der Pilgerführer verspricht.

Die Pilgeroase erreiche ich kurz darauf; mit schlammbespritzter Hose und Lehmpaketen an den Schuhen. Vor der Herberge macht ein lebensgroßer Metallpilger den ersten Schritt ins Offene; den Ranzen geschultert, den Stab in der Hand und den Blick enthusiastisch in die Ferne gerichtet. Im Schatten einer Pergola geht es lebhaft zu. Ein herzliches Hallo und Winken, als ich auf die Herberge zugehe, als habe man Angst, ich gehe vorbei. Anscheinend sehe ich nicht so aus, wie jemand, der dringend eine Rast braucht. Ich selbst habe mich längst entschieden, dass ich über Nacht bleibe. Vor mir steht ein reich mit Obst, Tee und Keksen gedeckter Tisch. Johannes, ein Besucher aus Panschwitz-Kukau sitzt erwartungsvoll am Tisch. Er belegt mich gleich mit Beschlag; anscheinend hat er auf jemanden gewartet, der ihm Gesellschaft leistet. Zwei Frauen arbeiten im Garten, sagen nur kurz Hallo, und fordern mich auf, zuzugreifen. Wenn ich Kaffee will, muss ich mir den in der Küche selbst kochen. Die Herbergsmutter ist nicht zu Hause. Sie ist bis Sonntag auf dem Katholikentag in Leipzig. Vielleicht tanzen hier die Mäuse auf dem Tisch. Ich lasse mich nicht lange bitten, ziehe die schlammigen Schuhe aus, und setze mich an den gedeckten Tisch.
Johannes wundert sich, dass ich bleiben will. Die meisten Pilger, erzählt er mir, gehen weiter zum Zisterzienserkloster Sankt Marienstern. Ich habe keine Lust auf ein katholisches Nonnenkloster und all die Erwartungen an mich, die damit zusammenhängen, sage aber nichts, da ich kein Gespräch über Konfessionelles führen will. Er schwärmt vom Pilgern, und wie sehr er die Pilger bewundert, die so weite Wege gehen. »Für mich ist das nichts,« fährt er fort, „»mir fehlt die Kondition; und überhaupt.« Es fällt schwer, ihn vom Thema abzubringen, doch schließlich erzählt er mir von dem schweren Unwetter von Dienstag; der Grund für den schlammigen Weg und die im Garten arbeitenden Frauen. Innerhalb von fünfundvierzig Minuten schüttete gestern ein sintflutartiger Regen neunzig Liter Wasser pro Quadratmeter über Crostwitz aus. Niederschlag, angeschwollene Bäche und Erdrutschte überschwemmten das Dorf und die Felder. Wasser und Schlamm flossen durch die Dorfstraßen bis in manche Keller. Haselnussgroße Hagelkörner gingen auf Crostwitz nieder, und die Leute haben sich aus Angst vor Verletzungen nicht nach draußen gewagt. Auf den Feldern und in den Gärten hat das Unwetter die Pflanzen umgeworfen, entwurzelt oder ganz zerstört. Der Hagel hat eines der Kirchenfenster eingeschlagen. »Solche Unwetter gibt es hier seit einiger Zeit immer wieder,« sagt Johannes. »Sie sind regional eng begrenzt, und werden durch die Hochspanungsleitungen angezogen, die die Regenwolken umleiten oder aufhalten.«
Ich fühle mich schläfrig wohl im warmen Schatten, und sehe Johannes Hochspannungsmasten vor mir, die mit den Wolken kämpfen. Eine Verschwörungstheorie? Sein nächster Satz holt mich wieder unter die Pergola zurück: »Die Via Regia durch die Felder nach Panschwitz-Kukau ist morgen nicht begehbar.« vertraut er mir verschwörerisch noch an. Schwer vorstellbar an einem heißen Tag wie heute. Eine der Frauen, die Pilgerin Maria, ist mit einem entzündeten Knie in der Pilgeroase gestrandet. Sie ist vor ein paar Tagen mit einer Gruppe Frauen in Görlitz aufgebrochen, und hat sich überfordert. Wissend, dass ihr die Kondition fehlt, wollte sie mit den anderen Frauen mithalten. »Ein Anfängerfehler!« sagt sie, verlegen lächelnd. Anette, die andere Frau, die Untermieterin in der Pilgeroase, kümmert sich nun um sie, bis Marias Tochter sie heim ins Erzgebirge holt. Sie ist erst seit ein paar Jahren dort zu Hause, nachdem sie ihre Selbständigkeit als Altenpflegerin aufgegeben hat. Bei beiden Frauen löse ich mütterliche Gefühle aus. Nachdem Johannes mit dem Rad die drei Kilometer zurück nach Panschwitz-Kukau aufgebrochen ist, versorgen sie mich königlich mit dem ersten frischen Gemüse: Salat aus Nachbars Garten; ein Radler, ein bequemer Platz auf dem Sofa, und Gespräche bis spät in die Nacht. Von Umweltfragen über Bio-Bauernhöfe, über Merkels Flüchtlingspolitik, Rechtsradikalismus und Rechtspopulismus im ländlichen Sachsen sowie Pegida: nichts fehlt von dem, was die Menschen in Ostdeutschland umtreibt und von den herrschenden Parteien vernachlässigt wird. Wieder kommt die Sprache auf das Unwetter und die beunruhigende Überzeugung von den elektro-magnetischen Feldern der Hochspannungsleitungen, die das Wetter beeinflussen und lokal konzentrieren. Ich verstehe zu wenig von physikalischen Vorgängen. Ein hypothetisches Feld, vielleicht Rupert Sheldrakes morphische Felder, eine formbildende Verursachung für die Entwicklung von Strukturen in Biologie, Physik und Chemie, den Wissenschaften vom Leben auf der Erde. Spät am Abend kommt Veronika, eine Nachbarin, noch vorbei. Sie stellt sich als stellvertretende Herbergsmutter vor, die gekommen ist, um mich über das Leben der Sorben zu unterrichten.
Unter Sorben! Für mich klingt das, als schlägt gleich jemand einen Karl-May-Roman auf. Mitten in Deutschland bin ich in einem fremden Land gestrandet. Veronika ist gut vorbereitet, und wie ich erfahre, bietet sie allen Pilgern ihren Vortrag über die sorbische Kultur zwischen Bautzen und Kamenz an. Die katholische, sorbische Lausitz ist ein geschlossenes Gebiet zwischen Bautzen, Kamenz und Wittichenau. In diesem Gebiet leben mehr als 10 000 sorbische Katholiken in acht Pfarrgemeinden. Protestantische Gemeinden mit einer überwiegenden Anzahl an Sorben gibt es nicht mehr. Das sorbische Oberammergau titelten die Zeitungen, als 2005 zum ersten Mal das Passionsspiel der Crostwitzer Gemeinde im Pfarrgarten uraufgeführt wurde. Seit 1995 findet es alle zehn Jahre statt. Das sorbischsprachige Passionsspiel brachte damals 220 Darsteller, Chorsänger, Musiker und Helfer auf die Bühne. In Crostwitz spricht Jesus sorbisch. Dolmetscher sorgen für Verständigung. Im September 2015 folgte die zweite Inszenierung in Crostwitz.
Mit 60 000 Menschen sind die Sorben das kleinste slawische Volk. Vor mehr als 1400 Jahren haben sich ihre Vorfahren in dem Gebiet zwischen Oder, Elbe und Saale sowie zwischen der Ostsee und den deutschen Mittelgebirgen angesiedelt. Im Zuge einer radikalen Germanisierung verloren sie ihre politische Autonomie im 10. Jahrhundert, sodass im Laufe der Zeit nur die Sorben der Oberlausitz, ihre Sprache und Kultur, bis in die Gegenwart bewahren konnten. Heute leben die Sorben nur noch in der Oberlausitz im Freistaat Sachsen sowie in der Niederlausitz in der Region Cottbus in Brandenburg. Die Lausitzer Sorben bezeichnete man früher als Wenden, ein ethnischer Name, der sich vom lateinischen Veneti ableitet. Die Römer verwendeten für die verschiedenen slawischen Stämme, die während der Völkerwanderungszeit in den mitteldeutschen Raum vorstießen, diesen Sammelbegriff. Die ethnische Eigenbezeichnung Sorben geht auf dden sorbischen Namen Serbja zurück. In der Oberlausitz verwendet man ausschließlich den eigensprachlichen Namen - Sorben; während in der Niederlausitz die Bezeichnungen Wenden und Sorben gebräuchlich sind. Unter dem Einfluss der Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts entstand unter den slawischen Völkern ein Nationalgefühl, dass sich gegen eine zunehmende Assimilierung wandte. Der Bund Lausitzer Sorben e.V. - die Domowina - wurde 1912 als Dachverband sorbischer Vereine in Hoyerswerda gegründet. 1937 wurde er vom NS-Regime verboten und 1945 als antifaschistisch demokratische Organisation in Crostwitz neu gegründet. Um als Massenorganisation anerkannt zu werden, setzte sich die Domowina für den sozialistischen Aufbau in der DDR ein, was sich aber als Nachteil für die sorbische Sprache und Kultur erwies. Mit der politischen Wende 1989 erneuerte sie sich strukturell und inhaltlich. Inzwischen ist der sorbische Dachverband ein politisch unabhängiger und selbständiger Bund Lausitzer Sorben in Deutschland. Seine Aufgabe sieht er in der institutionellen Förderung der sorbischen Identität. Die Domowina begreift sich als die Interessensvertretung der Sorben in Sachsen und Brandenburg mit demokratisch gewählten Institutionen.
Die sorbische Lausitz ist eines der größten Trachtenregionen Deutschlands. Von den ehemals elf regionalen Formen werden gegenwärtig noch vier Trachten bewahrt: im Norden bei Cottbus, in der mittleren Lausitz bei Hoyerswerda und Schleife und im Süden in den katholischen Dörfern westlich von Bautzen, wozu auch Crostwitz gehört. Die Tracht der Sorben hat eine eindeutig expressive und territoriale Funktion im Sinne der Bewahrung und Sicherung der ethnischen Identität einer Minderheit. 2008 war die Tracht noch für fast 400 Frauen die Alltagskleidung. Viele der Mädchen und jüngeren Frauen tragen die Tracht, die Kleidung der religiösen Rituale und Feste, während ihrer großen religiösen und Lebenszyklusrituale. Tracht und Sprache sind sichtbarer Ausdruck kultureller Identität. Nach dem Untergang der DDR entstand im Rahmen der Gründung von Heimatvereinen in der Lausitz eine Trachtenrenaissance.
Hand in Hand mit den Festen der katholischen Liturgie werden in der Lausitz abgewandelte, slawische Bräuche vorchristlichen Ursprungs beibehalten und selbstbewusst gepflegt, die sich vielfach um die christlichen Hauptfeste, Weihnachten und Ostern, oder um den Ablauf des bäuerlichen Jahres gruppieren. Weit verbreitet sind Winter- und Frühlingsbräuche wie die Vogelhochzeit oder die wendische Fastnacht, Osterfeuer und Hexenbrennen, sowie das Maibaum aufstellen und -werfen. Üblich sind noch immer Erntebräuche wie das Hahnrupfen, Hahnschlagen, Stoppelreiten und Kranzstechen. Alle diese Feste bieten einen Anlass für das Tragen ihrer Tracht, stolz zu zeigen, dass man sorbisch fühlt. »Gestern, an Fronleichnam,« erzählt mir Maria, »zog eine große Prozession durch das Dorf. Alle Teilnehmer trugen die sorbische Tracht, besonders die Frauen.« Mit zwei Bussen sind Touristen aus Köln angereist, um dieses Ereignis mitzuerleben. Maria zeigt mir ein Video, das sie mit ihrem Smartphone von der Prozession aufgenommen hat. Bei mir lösen ihre Bilder nur unangenehme Erinnerungen aus. Ich denke an meine eigene katholische Kindheit zurück, an die Fronleichnamsprozessionen, an denen ich jahrelang in meinem Kommunionsanzug teilgenommen, und mir einmal, im Alter von zehn Jahren, das Knie am Altarpodest aufgeschlagen habe. Über fünfzig Jahre sind seitdem vergangen, aber die Narbe kann ich immer noch sehen. Nun wundere ich mich auch nicht mehr über das vertraute Gefühl, das die zahlreichen gelb-weißen Wimpel und Standarten, die überall hingen, als ich ankam, ausgelöst haben. Schwach erinnerte Bilder, denen die Bedeutung fehlte, die jetzt, Stunden später nachgereicht wird. Sonntag gibt es eine zweite Prozession. Schade, meinen beide Frauen unisono, dass ich die nicht miterleben kann, während ich hoffe, dass sie mir meine Erleichterung nicht ansehen. Zu bleiben ist glücklicherweise keine Option, denn als Pilger darf ich nur eine Nacht in derselben Herberge bleiben. Anders als noch in Bautzen, kann ich die Vorschrift zur Hilfe nehmen. Manchmal haben auch unangenehme Regeln ihre angenehmen Seiten.

Inzwischen ist es spät geworden. Heute kommt kein weiterer Pilger mehr in die Herberge. Ich bin der einzige Gast, und habe die freie Auswahl zwischen zwei Zimmern und vier Betten im ersten Stock. Ein Hotel kann nicht besser sein, denn es besitzt nicht den Vorteil der individuellen Einrichtung, die viel vom Leben der Bewohner erzählt. Die Anonymität eines Hotels empfinde ich immer als eine vegetationslose Wüste ohne Aromen und Farbigkeit. Im Bett blättere ich eins der Fotoalben durch, in dem chronologisch Fotos von Pilgern eingeklebt sind, die vor mir hier übernachtet haben. Es fällt mir auf, dass viele Pilger Frauen und Männer aus sozialen Berufen sind; interessante Menschen, die mich aus den Fotos anblicken. Menschen jeden Alters, die in ihrer Gesamtheit alterslos wirken. 2015 übernachteten 264 PilgerInnen in dieser Herberge. Heute Abend sind alle anderen Pilger vermutlich vor mir auf dem Weg. Ob sich in der nächsten Woche ändern wird?

Ich bin schon früh wach, bleibe aber noch etwas liegen, da Veronika erst um neun Uhr kommen kann. Ohne Pilgersegen lassen mich die Frauen nicht ziehen. Maria holt, wie gestern vereinbart, Brötchen. Die Sorben essen Brötchen wie die Rheinländer oder Semmeln wie die Bayern. Berliner Schrippen kennen sie nicht. Die Sonne hat den Himmel inzwischen zurückerobert. Es ist schon warm und wir frühstücken im Garten. Während Anette Kaffee kocht, decke ich den Tisch. Inzwischen sind auch die Brötchen da, frisch und duftend. Kaum sitze ich am üppig gedeckten Tisch, überrascht mich Anette mit einer Bitte, die mich einen Augenblick sprachlos macht: »Sprich du das Tischgebet. Zeig mal mich, was du draufhast!« So ist sie: spontan, direkt und unverblümt, nur einen Moment davon entfernt, dreist zu sein. Die nächste Pilgerprüfung kommt wie immer unerwartet. Später staune ich darüber, dass mir so etwas wie ein Gebet gelungen ist; eins, das alle zufrieden stellt. Frieden, Umwelt und Konsumverzicht sind immer gute Themen, die dazu anregen, die eigene Position zu überdenken. Warum nicht darum bitten? Um die Schöpfung zu schützen, braucht es Gott nicht; dafür ist der Mensch verantwortlich. Es ist nicht gut, jemanden zu haben, auf den man die Verantwortung schieben kann. Eins der großen Missverständnisse in der Geschichte der Menschheit beginnt mit der Vertreibung aus dem Paradies. Jenseits von Eden, so wird ihm aufgetragen, muss er sich die Erde untertan machen. Es wäre dieser gern zitierten Stelle gut bekommen, die Autoren der biblischen Überlieferung, die Kanoniker, Exegeten und Übersetzer, hätten von Bewahrung und Verantwortung für die Schöpfung gesprochen. Es ist immerhin auffällig, wie viele Kulturen weltweit, die als primitiv abwertet werden, mit der Natur in einem verwandtschaftlichen Verhältnis leben, manche sie sogar als ihren Gott verehren. Umweltprobleme haben diese Kulturen nicht verursacht, und es hilft auch nicht weiter, die Überbevölkerung verantwortlich zu machen. Es ist nicht der globale Süden, der die Welt zerstört, es ist die westliche Weltanschauung, die sich stolz christlich und humanistisch nennt.
Anette führt mich während des Frühstücks weiter vor. Sie will unbedingt herausfinden, wie authentisch ich bin. In vielem verrennt sie sich, in manchem liegt sie richtig, was mich nachdenklich stimmt. Veronikas Ankunft rettet mich vor Anettes zunehmend peinlichem Kreuzverhör, das mir inzwischen zu persönlich geworden ist. Das Gespräch kehrt zu Unverfänglicherem zurück. Es wird Zeit zu gehen. Die Gastfreundschaft der Frauen beginnt mich zu erdrücken. Ihr Griff hinterlässt schon blaue Flecken.

Ich packe zusammen. Von Veronika erhalte ich den sorbischen Pilgersegen und eine Anstecknadel: das sorbische Lindenblatt in den Nationalfarben, dass ich Wochen später auf dem Brandenburgischen Jakobsweg verlieren werde. Dann mache ich mich auf, diesen gastfreundlichen Ort zu verlassen. Als ich mich von Anette verabschiede, muss ich mit ihr zu einem Schlager im Radio tanzen. Welch eine seltsame Frau! Was für ein merkwürdiger Abschied! Bevor ich aufbreche, schreibe ich den Frauen einen Gedanken von Maria Ward ins Gästebuch: Du findest den Weg nur, wenn du dich auf den Weg machst. Es ist immer nur der eigene Weg. Es bedarf keiner ideologischen und konfessionellen, äußeren Regeln für eine Pilgerreise, die nur den individuellen Entwicklungsimpuls verhindern, der im Aufbruch liegt. Der Aufenthalt in der Pilgerherberge Crostwitz hat mir gutgetan. Menschen zu begegnen, die mich kurz und vorbehaltlos in ihr Haus und Leben aufgenommen haben, die mich, den Fremden, so angenommen haben, wie ich bin, uneigennützig und selbstverständlich. Das alles nur, weil ich ein Pilger bin. Eine selten gewordene Geste in dieser materialistisch orientierten Zeit. Beschenkt mache ich wieder auf den Weg. Ein ungewöhnliches Erlebnis: Stunden in einer privaten Pilgerherberge, getragen vom Engagement der Frauen.
Die Feldwege zum nahegelegenen Zisterzienserinnenkloster St. Marienstern sind, trotz des Unwetters und Johannes pessimistischer Voraussage, gut begehbar; zwar nass und matschig, aber nicht so sehr, dass ich einsinke. Nach Panschwitz-Kuckau ist es nur ein Katzensprung. Überhaupt bin ich heute Morgen gut zu Fuß. Die Lausitz im Rücken komme ich durch eine intensiv bäuerlich genutzte, wenig natürlich gebliebene Landschaft. Seit der Gröditzer Skala gibt es keinen Wald mehr. Auch kein anderes landschaftliches Highlight. Doch der Himmel ist blau, und hauchdünne Cirruswolken schmücken malerisch die schwindelnde Höhe. Die Sonne scheint mir warm ins Gesicht.
Sankt Marienstern ist eine Klosteranlage, die mich an ein anderes Kloster dieses Ordens in Marienthal an der Neiße erinnert. Wo der Feldweg endet, gesäumt von einer Pappelreihe, liegt das Kloster in der Morgensonne. Schon von weitem sehe ich die Spitze der Klosterkirche als Skyline eines vergessenen Ortes in den Morgenhimmel stechen. Pilgern bedeutet auch, von Kirchturmspitze zu Kirchturmspitze zu navigieren. In der flachen Landschaft sind Kirchtürme eine allgegenwärtige Orientierung und mein ersehntes Ziel, wenn am Nachmittag die Füße streiken. Obwohl ich kaum unterwegs bin, halte ich im Klosterhof die erste Rast des Tages. Ich bin viel zu neugierig, um vorbeizugehen. Die Bänke sind noch feucht, was meiner Hose nichts ausmacht. Mein Hemd ist bereits nass geschwitzt. Den zentralen Hof der Klosteranlage umgeben eine Kirche und die Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Alles gepflegt. Alles sauber. Alles an seinem Platz. Über der Anlage schwebt eine unsichtbar ordnende Hand, die Lebendiges und Lebloses in einer Form zusammenhält. Ein der Natur abgerungenes Stück Kultur, ein Ensemble, wie es unter allen Lebewesen nur der Mensch erfunden hat. Ich suche vergebens nach einem Hauch Natürlichkeit. Trotzdem schmiegt sich die historische Anlage harmonisch in die Landschaft.

Es muss ihr Alter sein, das dem Betrachter vorgaukelt, es habe sie schon immer hier gegeben. So wirken Klöster auf mich, Schlösser und Burgen. Sie sind die letzten Zeugen einer Zeit, die den Kapitalismus noch vor sich hatte. Jetzt scheint ihre mittelalterliche Fassade, hinter der moderne landwirtschaftliche Praxis herrscht, frisiert. Sie bilden Ausflugsziel und Sehnsuchtsort von Menschen, die sich von der Fremde und der Ferne faszinieren lassen. Wer nicht vom Anderen seiner Kultur träumt, der kommt auch nicht weit herum. Viel ist nicht los auf dem Klosterhof. Gerade kommen die ersten Radwanderer an, und stellen ihre Räder ab. In farbige Trikots mit Werbeaufdrucken gekleidet, den Helm unter dem Arm, klappern sie auf ihren Klickpedalschuhen ungelenk über das Pflaster. Ein paar Familien flanieren im Hof auf und ab. Ihre Kinder laufen herum und schauen in jede Ecke. Besonders der Brunnen mit dem Löwen, vor dem Portal der Klosterkirche, hat es ihnen angetan. Ein paar verspätete Besucher wollen noch in die Messe. Als sie die schwere Türe öffnen, klingt gedämpftes Orgelspiel nach draußen. Ein Aushang informiert über die Zeiten der Messe. Sie ist fast vorüber, aber ich fühle mich im warmen Morgenlicht nicht nach düsteren Gemäuern. Die Schatzkammer mit den besonderen Reliquien ist noch geschlossen. Es gibt keinen Grund länger zu verweilen, und ich breche nach Kamenz auf. Sehr weit komme ich nicht. Ein sonniger Platz mit großen grauen Findlingen verführt mich zur nächsten Rast. Es ist noch nicht Mittag, und ich esse meine restlichen Vorräte auf. Für die fehlenden acht Kilometer nach Kamenz brauche ich keinen Proviant mehr. Noch während ich faul in der Sonne döse, schreckt mich das Klack-Klack der Stöcke meiner Mitpilger hoch, die, ohne nach rechts oder links zu schauen, an mir vorbei gehen. Ich bleibe still und schaue ihnen nach, wie sie langsam in der Ferne verschwinden. Erst dann mache ich mich selbst wieder auf den Weg, immer weiter durch Felder und Wiesen, gezeichnet von den Spuren des vergangenen Unwetters. Korn und Gräser liegen breitflächig flach gedrückt auf dem Boden. Immer wieder komme ich an Wegkreuzen und Bildsäulen vorbei, deren Ikonographie ich nicht lesen kann. Ich habe den Eindruck, sie werden immer mehr. Ich fühle mich in ein magisches Netzwerk christlicher Symbolik verstrickt, die mich seltsam berührt. Den Weg zurück in die Kindheit gehe ich lieber mit Jean Paul als mit Sigmund Freud. Wem ich diese Bemerkung verdanke, weiß ich nicht mehr. Vielleicht habe ich sie einmal irgendwo gelesen, und sie nun falsch zitiert. Ich bin nicht sicher, was ich davon halten soll. Ich bin mit der Sprache des Vor-Romantikers Johann Paul Friedrich Richter anfreunden können, sodass mir die Inhalte seiner Romane verschlossen blieben. Er trieb die zerfließende Formlosigkeit des Romans der Romantiker auf die Spitze. August Wilhelm Schlegel nannte seine Romane Selbstgespräche, an denen er seine Leser teilnehmen lasse. Sigmund Freud dagegen verdanke ich viel für meine persönliche Entwicklung. Als ich seine Schriften im Nachglühen der Pubertät entdeckte, habe ich vieles nicht verstanden. Das kam erst später. Seit mir die Wegkreuze und Bildsäulen gestern zum ersten Mal aufgefallen sind, zieht mein Blick sie regelrecht an. Die Wegkreuze mit dem goldenen Kruzifix scheinen zu den beliebtesten zu gehören. Bei den Bildsäulen sind es die Statuen, die ein auferstandener Christus krönt. Stilistisch erinnern mich die naiven Darstellungen an die Heiligenbildchen, die in den 1950er Jahren in der Volksschule als Fleißkärtchen verteilt wurden; einziges Lob eines zufriedenen Lehrers in einer Zeit, in der Männer nur emotional waren, wenn sie gewalttätig wurden. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich in meinen ersten Schuljahren geschlagen wurde. Mit Billigung meiner Eltern, die ich nicht davon überzeugen konnte, dass Lehrer nicht immer recht haben. Überhaupt versetzt mich der Katholizismus der Sorben zwischen Bautzen und Kamenz ständig verstörend zurück in meine eigene katholische Kindheit.

Lessing in Kamenz

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