Ich kenne ein Land, wo alte Männer regieren
Da kann man nicht bleiben, weil da darf nix passieren
Die Welt ist so groß, und diese Dinge sind klein
Hat eh keinen Sinn, so einsam zu sein
Wir reiten nach Jerusalem
Spliff
Ich war noch ein Kind, noch katholisch. In der Pfarrkirche meiner Heimatstadt wurde immer wieder ein Lied gesungen, auf das ich in jeder Messe ungeduldig wartete, das einzige, das ich nie vergessen habe, auch wenn nur ein paar Fragmente übriggeblieben sind. Doch es sind die entscheidenden gewesen, wie ich mittlerweile weiß, denn sie haben mein Leben mitgeprägt. Für mein damaliges Bedürfnis wurde dieses Lied viel zu selten gesungen. Ich habe es seitdem nie mehr gehört. Manchmal erinnere ich mich, irgendetwas holt es ins Bewusstsein zurück. Vielleicht wusste ich einmal, an welcher Stelle es in der Liturgie gesungen wurde, und was mein affektives Betroffensein wirklich bedeutete. Inzwischen habe ich auch das vergessen. Aber ich weiß mittlerweile, dass wir alle zu unterschiedlichen Zielen unterwegs sind, und dass nicht jedes Ziel auf dem physischen Plan verwirklicht werden kann. Den Rest des Liedes, dass ich erinnere, handelt von dieser sehr paradoxen Situation:
Wir sind nur Gast auf Erden,
und wandern ohne Ruh,
mit mancherlei Beschwerden,
der ew'gen Heimat zu.
Als ich noch ein Kind war, hatte ich keinen Zweifel daran, dass der Himmel die letzte Heimat ist. Im Verlauf der Jahre wurde ich skeptischer, und als ich kein Kind mehr wr, begann ich zu hinterfragen und zu reflektieren. Vermutlich bin ich einsamer geworden, aber es ist nichts mehr daran zu ändern, dass ich vom Baum der Erkenntnis gegessen habe.
»Warum gehen Sie zu Fuß?« fragt mich mit ungläubigem Staunen ein Nicht-Pilger. »Warum soll man zu Fuß gehen, wenn man ein Auto hat?«
»Um den Weg zu finden!« antworte ich ihm.
Es ist dem Menschen nicht möglich, stehen zu bleiben. Er ist ein Homo viator, der erst stehen bleibt, wenn er tot ist. Wir haben den größten Teil unserer Geschichte als Jäger und Sammler, dann als Nomaden verbracht. Sesshaft sind wir gerade erst einmal 10 000 Jahre. Bruce Chatwin vermutet sogar, dass es ein Nomaden-Gen gibt. Der Weg wächst im Gehen, meint deshalb auch Reinhold Schneider, unter deinen Füßen. Biografisch ist es nicht möglich, einen einmal gegangenen Weg noch einmal zu gehen. Es wird immer ein anderer sein. Zurückgehen kann man nur in der Erinnerung. Lebenszeit und das Erleben das Zeit lassen sich nicht zu wiederholen. Wie ein einmal ausgesprochenes Wort kann nichts mehr zurückgenommen werden: Blowin´In The Wind!
In den vergangenen Jahrzehnten bin ich viel gereist und oft auch länger geblieben. Bis nach Westtimor, wo die Baumsavanne Amanuban lange Zeit ein glückliches Zuhause war. Eine Heimat im Sinne von Ankommen, habe ich nirgendwo gefunden. Ich habe mich schon lange mit meinem nomadischen Blut abgefunden. Else Lasker-Schüler, die dieses Gefühl anscheinend auch kennt, findet poetisch die richtigen Worte: Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, an der wir sterben müssen.
Ich habe spät begonnen zu wandern. »Um was zu finden?« das fragte mich der Mann. »Einen Weg habe ich ihm geantwortet.« Ohne eine konkrete Vorstellung von diesem Weg zu haben, wo er verläuft und wohin er mich führt. Inzwischen gehe ich zu Fuß, Schritt für Schritt, pilgere, wandere, reise. Jetzt bin ich Fußgänger. Am liebsten Flaneur.
Heute Morgen bin ich vor sechs auf den Beinen. Kurz nach sieben bin ich auf dem Weg. Alle reden von einem schweren Unwetter am Nachmittag. Ich erinnere mich an die Überschwemmung von Crostwitz, und schaue mich nach Hochspannungsleitungen oder einer Stromtrasse um. Ich will den Tag nutzen, und trocken in Skassa ankommen. Der Himmel ist blau, kaum bewölkt und nichts spricht für Regen. Ich verabschiede mich von meiner Gastgeberin, einer schon älteren Frau, die mich vorurteilsfrei in ihr 1950er Jahre Etablissement eingelassen hat. Unmittelbar hinter dem Ortsausgang finde ich die Via Regia wieder. Bis Mühlbach führt sie über Asphalt und zwischen Feldern hindurch. Auch der Kuckuck ist wieder da, und ruft mir aus dem Gebüsch jenseits einer Wiese ein kräftiges Ultreia, Vorwärts, zu. Auf der Wiese rechts des Wegs stakt ein Storch auf der Suche nach einem Frühstück vor der Kulisse eines Heizkraftwerks durch das taufeuchte Gras. Oder ist es eine Müllverbrennungsanlage? Nur noch schnell über die Landstraße und ich bin wieder unter Bäumen, gehe vergnügt und entspannt durch das Heidelbornholz, ein Wäldchen auf dem Weg nach Quersa. Die Sonne hat Kraft am Morgen, und ich bin froh, wieder unter Bäumen zu sein. Kurz vor Quersa raste ich auf einen liebevoll gestalteten Rastplatz mit Schnitzarbeiten wie aus dem Märchenbuch. Es ist nicht Disney, ganz und gar nicht, eher das Gegenteil: eine Installation, die Kindern Freude machen soll; am Rand des Pilgerwegs, auf dem ich noch kein Kind gesehen habe. In einem Kasten liegt ein Gästebuch mit begeisterten Kommentaren. Obwohl ich frisch und ausgeruht bin, weder Füße noch Rücken schmerzen, bleibe ich für eine Weile, staune und esse Salzcracker.
Über die Hauptstraße von Quersa donnert LKW nach LKW. Ich bekomme Mitleid mit den Anwohnern, die den Lärm und die Abgase des Schwerverkehr täglich erdulden müssen. Warum wehren sie sich nicht? Mir fällt einer der Sponti-Sprüche aus den 1968ern wieder ein. Vielleicht Ton, Steine, Scherben: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Theodor Adorno hat dem Spruch noch einen draufgesetzt, als er davon sprach, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt. Nach einer Bäckerei halte ich vergebens Ausschau. Das Stück Kuchen, das ich mir wünsche, gibt es nicht.
Am Ortsausgang ist die Wegführung der Muschel noch eindeutig, weicht allerdings von meiner Karte ab, die den Verlauf der Via Regia nördlich der Schnellstraße angibt. Ich brauche eine Weile, bis ich mich entschieden habe, welchen Weg ich einschlagen werde. An der Kreuzung, im Schatten einer Linde mit quakenden Fröschen in einem kleinen, eingezäunten Weiher, ringe ich mit einer Entscheidung, während der Schwerverkehr unbarmherzig weiter an mir vorbei in den Ort dröhnt. Ich gehe zurück, auf die Straße nach Kalkreuth, nicht weil ich überzeugt bin, sondern weil sie größtenteils durch den Quersaer Busch führt. Mir ist nach Schatten zumute. Dann ist die gelbe Muschel wieder plötzlich wieder da. Warum Markierung und Karte voneinander abweichen, verstehe ich nicht. Wie es aussieht, ist der Weg über Folbern der direkte. Wie dem auch sei! Landschaftlich bereue ich meine Wahl nicht, die Region ist reizvoll, der Weg führt über Paulsmühle, folgt dabei dem Lauf der Großen Röder, später dem Röderneugraben, vorbei am Wehrhaus und dem Reiherhof nach Großenhain. Der Reiherhof ist nicht so malerisch, wie sein Name verspricht, und lockt mich zusätzlich in die Irre. Ich spüre eine Blase am rechten Fuß, jetzt, nach acht problemlosen Tagen. Am linken Fuß finde ich eine zweite. Das Wanderlatein behauptet, ich glaubte natürlich nicht daran, dass es falsch ist, unterwegs die Socken zu waschen, gleichgültig wie sie riechen. Ich habe mich über den Aberglauben der alten Leute lustig gemacht. Erst gestern habe ich die Socken gewaschen. Jetzt habe ich zwei Blasen zu versorgen. Aber was mache ich, wenn ich viele Wochen unterwegs bin, täglich mit feuchten Füßen in den gleichen Schuhen?
Lange Zeit gehe ich über den mit Platten ausgelegten Deich nach Großenhain. Weit vor mir sehe ich zwei andere Fußgänger. Endlich Pilger, solche wie ich? Ich spüre mein Verlangen nach Gleichgesinnten. Doch sie sind zu weit entfernt, um sie einzuholen. Vielleicht rasten sie? Obwohl ich mich bemühe, sind sie irgendwann verschwunden. Die letzten Kilometer nach Großenhain gehe ich durch einen Park. Auf einer Wiese am Stadtrand steht ein Graukranich im Gras, der in der Sonne döst. Als ich näherkomme, fühlt er sich gefährdet, und fliegt hinüber auf eine andere Wiese, wo ich ihn nicht mehr sehen. Ich setze mich auf die Bank am Rand der Wiese, hoffe, dass er zurückkommt.
Stattdessen kommt ein Mann. Als habe er auf mich gewartet, setzt er sich zu mir und schnorrt mich um ein Mittagessen an. In Berlin bin ich von bettelnden Menschen umgeben, von so vielen, dass die Geberlust erlahmt. Ich kann den Vielen nicht täglich geben. Obwohl mir dies bewusst ist, kann ich ein leichtes Schuldgefühl nicht vermeiden. Er hat Hunger, erzählt er mir. Erst um zwölf Uhr kann er sich Geld von der Bank holen. Ob ich zwei Euro für etwas zu essen für ihn habe. Ich gebe ihm meine letzten Münzen, und erst als er fort ist, sehe ich, dass es viertel vor zwölf ist. Ich bin nicht der Einzige, der Scham über das Elend vieler Menschen empfindet. Der Beschenkte schämt sich auch, dass er sich erniedrigen muss. Er überlässt mir die Sonne und die mittägliche Ruhe am Rand der kleinen Stadt. Ich kann mein Hemd trocknen und meine beiden Blasen richtig tapen. Eine ausgiebige Pause, bis mein Hemd trocken ist. Hinter mir zieht von Südosten eine mächtige Wolkenfront auf; dunkelgrau und an den Rändern schwarz. Vor mir fliehen die Haufenwolken über den Himmel, der noch immer blau ist. Solange Wolken noch Struktur und Tiefe haben, regnet es nicht so schnell.
Am Kulturschloss vorbei, einst eine trutzige Burg, in deren Bergfried Fledermäuse ein sicheres Refugium gefunden haben, komme ich ins Herz der Stadt. Eine quirlige Kleinstadt, anders, als ich sie mir vorgestellt habe.
Es ist Markt auf dem Platz zwischen Rathaus und Marienkirche. Bis auf Bananen, die eigenartigerweise an keinem der Stände zu bekommen sind, kann ich meinen Proviant auffüllen. An den Stehtischen einer Gulaschkanone herrscht reger Betrieb. Es gibt verschiedenen Eintopf und Kesselfleisch. Pro Portion drei Euro; plus Nachschlag. Ich hole mir einen Teller Bohneneintopf, ohne Fleischeinlage, heiß und lecker, meine erste warme Mahlzeit seit Weißenberg. An dem verführerischen Eiscafé, an dem man Schlange steht, gehe ich vorbei, verschiebe einen Milchshake auf später, und schaue in die gegenüberliegende Marienkirche. Und erlebe die nächste Überraschung: Der Grundriss der Kirche stellt ein Kleeblatt dar. Altar, Kanzel und Orgel bilden eine integrierte, spätbarocke Installation, die eine ganz Wand einnimmt. Die drei anderen Kleeblätter bilden übereinanderliegende Etagen, umlaufenden Logen gleich. Die unterste besitzt eine verglaste Fassade, hinter der einst die Honoratioren standen. Auf mich wirkt die Gestaltung der Kirche, die stilistisch eine Schwesterkirche der Dresdener Frauenkirche ist, wie ein Theater. Die ehrenamtlich in der Kirche aushelfende Rentnerin ist erfreut, einen Pilger zu sehen. »Ich habe nichts anderes zu tun,« sagt sie, »ich erzähle ihnen gerne mehr.« Sie zeigt mir eine besondere Gedenkstätte. Im hinteren Raum, unter dem Turm der Großenhainer Marienkirche, befindet sich eine ungewöhnliche Ausstellung für eine Kirche, die ich lieber im öffentlichen Raum sehen würde. Es sei denn, in Großenhain ist die Kirche noch ein öffentlicher Raum. Eine Initiative hat in mühevoller Arbeit alle die von zwei Terrorregime auf deutschem Boden verfolgten und umgekommenen Bürger aus dem Kreis Großenhain dokumentiert. In zwei dicken Folianten ist jedem ein Blatt gewidmet, auf dem die für sein Schicksal relevanten Daten aufgezeichnet sind. Die erschütterndsten Schicksale spiegelt die Zeit des Nationalsozialismus. Die überwiegende Mehrheit der Verfolgten und zu Tode Gekommenen waren Bürger des SED-Regimes in der DDR. Ich habe nur einige dieser Blätter gelesen, zu deprimierend und leidvoll war ihr Inhalt. Die Jahrzehnte meines Lebens waren eine Zeit des Wohlstands und des Friedens, für mich ein Privileg, in ihnen zu leben.
Mir ist es immer nur gut gegangen, wofür ich allen, die daran mitgewirkt haben, dankbar bin. Kriege führt die westliche, an christlichen Werten orientierte Kultur weiter, nur nicht mehr in Europa. Stattdessen werden Stellvertreterkriege seit der zweiten Hälfte des 20 Jahrhundert zunehmend in Asien, Afrika und Südamerika geführt. Nach der Lektüre der Gedenkblätter war ich froh wieder in der Sonne zu stehen, und ein bedrückendes Gefühl abschütteln konnte. Es ist wichtig, sich zu erinnern, aber es ist ebenso wichtig, die Erinnerung verdrängen zu können. Wer kann mit der ewigen Gegenwart dieser Erinnerungen leben, ohne zu verzweifeln? Ich hatte es plötzlich eilig, Großenhain den Rücken zu kehren, und den Milchshake am Markt in eine andere Stadt zu verschieben.
Nach Skassa, wo ich übernachten will, lege ich weitere unplanmäßige Kilometer zurück. Schließlich finde ich die Via Regia durch den schönen Stadtpark, mit Wegen, auf denen meine Stöcke leichtfüßig klappern. Am Bahnübergang ein kurzer Small Talk mit einem Fahrradfahrer, bis der Zug vorbei ist und sich die Schranke hebt. Das Wetter, meint er, sei hier sehr stabil. Es regne nur wenig. Aus diesem Grund habe auch Großenhain den Flugplatz bekommen, da der Ort sich gut für Flugunterricht eignet. Die Frau in der Kirche hatte mich bereits beruhigt, wegen meiner Sorge um das angekündigte Unwetter. Ich wandere durch eine ausgedehnte Parklandschaft, durch Ortsteile von Großenhain, zuletzt durch die Dürrwiesen. Über mir ziehen die ersten dunkeln und regenschweren Wolken auf. Es ist nicht mehr weit bis Skassa, als der erste Donnerschlag unheilvoll grollt und meine Schritte automatisch schneller werden. Ich komme mir vor wie auf der Flucht. Als die ersten Tropfen fallen, erreiche ich gerade noch rechtzeitig das Pfarrhaus. Wenige Augenblicke später entladen sich die Wolken mit Hagel, Blitz und Donner über dem Ort. Wieder einmal Glück gehabt: Ich bin dem Regen knapp entkommen.
Die Pilgerherberge im alten Pfarrhaus bildet mit der Kirche einen Gebäudekomplex auf einem großen Hof am Ortsrand von Skassa. Sofort denke ich an adelige Gutsherren im Mittelalter. Mitten zwischen den neuen Einfamilienhäusern in der Nachbarschaft wirkt die alte Kirche wie Relikt aus einer anderen Zeit. Ein trutziger Bau, fast erwartet man einen Wassergraben, etwas zu finster vielleicht, weniger zugänglich als die hellen modernen Häuser mit ihren klaren, geometrischen Formen. Das alte Gebäude verströmt den Hauch einer langen Geschichte.
Im Inneren ist die Kirche durch die kleinen Fenster noch düsterer, besonders bei diesem Wetter, das draußen den Weltuntergang probt. Sie erinnert mich an die Wehrkirchen im Havelland und der Prignitz. Die Kirche besitzt einen alten Barockaltar, in den die Kanzel integriert ist. Gegenüber auf der Empore steht eine Orgel. Während draußen Wind und Regen über das Land jagen, andere Atmosphären als die der Statue in Tauscha, hüllt mich die alte Kirche schützend ein. Über dem Hof und die Dächer schütten die Wolken ihre erste Ladung aus. Schließlich will ich zurück in der Herberge. Es sind weniger als hundert Meter über den Hof, aber ich komme nass ins Pilgerquartier zurück. Die Herbergseltern haben Eimer und Schüsseln aufgestellt. Es tröpfelt und platsch. An vielen Stellen hat der Regen einen Weg ins Haus gefunden. Der Pfarrer und seine Frau arbeiten schweigend und gut koordiniert. Es ist nicht das erste Mal, dass sie diese Arbeit tun. Weil niemand meine Hilfe will, setze ich mich auf die Fensterbank und schaue dem Regen zu. Morgen Abend sehe ich die Elbe wieder.
Copyright 2016 - 2025. All Rights Reserved (Texte und Fotos)
Der Weg wächst beim Gehen ist geistiges Eigentum des Autors und urheberrechtlich geschützt. Die Seiten und deren Inhalte dürfen nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.
Jegliche unautorisierte und gewerbliche Nutzung ist untersagt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen