Trenne dich nie von deinen Illusionen und Träumen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben.
Mark Twain
Leipzig. Zusammen mit anderen Zentren der Region gehört die Stadt zur polyzentralen Metropolregion Mitteldeutschland; ein Ballungszentrum mit einer Bevölkerung von über einer Million. Sicher, nicht so viele wie in Berlin, aber genug, um mich schon am Stadtrand bedrängt zu fühlen. Nach Tagen ohne urbane Atmosphären, trifft mich die kreisfreie Stadt unerwartet heftig. Leipzig ist eins der historischen Zentren Sachsens, der Wirtschaft, des Handels und Verkehrs, der Verwaltung, Kultur und Bildung sowie für die Kreativszene. Die Stadt empfängt mich lärmend und geschäftig. Sie zerrt an der Stille in mir, an meiner Ruhe und Gelassenheit, die mich in den letzten beiden Wochen ausgefüllt hat.
Über Leipzig zu schreiben, wie über andere Dörfer oder Kleinstädte an der Via Regia, füllt ein eigenes Buch. Doch als ich über eine mehrspurige Straße in die Stadt wandere, denke ich an die friedlich genannte Revolution im Herbst 1989, mit der die Montagsdemonstrationen in dieser Stadt begannen. Der Ruf, Wir sind das Volk! inzwischen von Pegida und anderen rechten und rechtsradikalen Gestrigen missbraucht, schallte erstmals durch Leipzigs Straßen, als Hundertausende DDR-Bürger gegen die politischen Verhältnisse protestierten. Ihr Ziel: demokratische Grund- und Menschenrechte, eine friedliche, gewaltlose Neuordnung menschenverachtender Verhältnisse, die Abschaffung des Ministeriums für Staatssicherheit und das Ende des diktatorischen SED-Regimes. Das ist bekannt! Lebt in Deutschland noch jemand, der darüber nichts weiß? Dann sollte er durch Ostdeutschland wandern. Das Neue Forum entstand, und die SPD in der DDR, später als Bündnis 90 in sie westdeutschen Grünen integriert. Wie viele Hoffnungen auf Freiheit und Mitgestaltung wurden damals geboren, in Gesprächen am sogenannten Runden Tisch, wie viel endete in Enttäuschung. Nicht nur Helmut Kohls blühende Landschaften. In Sachsen, und besonders in Brandenburg, wo ich viel gewandert bin, konnte ich sie nicht finden. Vielleicht gibt sie woanders, in den neuen Ländern. Doch der versprochene Wohlstand ist für viele ausgeblieben. Sie fühlen sich inzwischen abgehängt, und die Jugend hat sich vom Land in die Städte geflüchtet. Die Ungleichheit zwischen Ost und West bleibt bestehen, bis die Lebens- und Arbeitsbedingungen die gleichen geworden sind, die Folgen des westdeutschen Raubtierkapitalismus in der Ägide der Treuhand nicht aufgehoben sind, und unsere ostdeutschen Brüder und Schwestern statt den Soli wirkliche Solidarität bekommen.
Willkommen zurück in der Urbanität. In der Hektik und bedrängenden Masse. Noch hat sie mich nicht erreicht. Noch bin ich nicht ganz zurückgekommen. Noch fühle ich mich unverwundbar, und gehe ruhig und gemessenen Schritts durch die wuselnde Menge, die schnell und rastlos durch die Straßen eilt. Die Atmosphäre der Stadt rüttelt an den Toren meines Leibs. Ich bin noch angefüllt mit Bildern und Erinnerungen an eine alternative Welt, bin immun gegen ihren anbrandenden Einfluss. Dach ich spüre bereits, wie die zu Gewohnheit und Routine erstarrten, vertrauten Empfindungen wiederauftauchen, die sich für eine Weile zurückgehalten haben. Leipzig werde ich später entdecken, ausgeruhter als jetzt. Wandern ist kein Leistungssport. Ich bin nicht verrückt genug, um zu weit über die Grenze meiner emotionalen Erträglichkeit zu gehen.
Auf einer Wiese, gegenüber dem Hauptbahnhof, fühle ich mich fremd, mitten unter den zahlreichen Passagieren, die auf den Bus zurück nach Berlin warten, der pünktlich eintrifft. Eine andere Weise, einsam zu sein. Mit dreistündiger Verspätung erreiche ich spät in der Nacht Berlin. Ich bin glücklich, wieder zu Hause zu sein, und freue mich gleichzeitig darauf, wieder aufzubrechen. Ich weiß, höre ich es in mir flüstern: Nach der Wanderung ist vor der Wanderung. Zum ersten Mal in Leben spüre ich den Wandervirus, der sich wie eine psychische Infektion in mir ausbreitet.
In sechs Wochen fahre ich nach Merseburg, nein, nicht zurück nach Leipzig, eine Stadt, die eine eigene Reise fordert, und wandere weiter nach Vacha an die Werra, wo noch vor noch vor nicht langer Zeit die DDR begann. Nach Leipzig will ich erst einmal nicht zurück. Und die Moral von der Geschichte oder wenn mich jemand fragt: »Warum pilgern?« antworte ich ihm am besten mit einem Limerick:
Ein Pilger zieht schweigend und heiter,
die Wege werden nicht leichter.
An der Neiße schwört er Verzicht,
In Leibzsch erinnert er sich nicht.
Das Wandern machte ihn nun gescheiter.
Am Bahnhof in Leipzig warte ich auf den Bus zurück nach Berlin. Fünfzehn Tage ist es her, seit ich von dort aufgebrochen bin. Eine Fußreise, besonders allein, rückt vieles zurecht und "verrückt" manch eine Perspektive. Es handelt sich beim ökologischen Lebensstil, lese ich bei Wilhelm Schmid, um ein freies Leben, dem das Individuum aus Gründen der Klugheit die Form gibt, ökologischen Zusammenhängen Rechnung zu tragen und sich selbst in sie einzugliedern. [... ] Die Lebensführung ins Zentrum zu rücken, bürgt dafür, den Übergang von der Theorie zur Praxis leichter zu finden, denn dieser Übergang bedarf nicht erst umständlicher Wege und Prozeduren, sondern liegt im Verfügungsbereich des jeweiligen Individuums selbst, und schließlich ist die Lebensführung flexibel genug, auf unterschiedliche Erfordernisse zu antworten, denen allgemeine Grundsätze kaum gerecht werden können.
»Im Verfügungsbereich eines jeden Menschen selbst.« Die ganze Essenz eines ökologisch bewussten Lebens liegt in diesem einen Gedanken. Wer denn anderes, als jeder einzelne Mensch allein ist für die Bewahrung seiner Umwelt, seinen ökologischen Fußabdruck, den er hinterlässt, verantwortlich. In meiner Einführung in diese Weblogreihe, den Prolog Via Regia, habe ich das Leitmotiv meiner, einer Fußreise formuliert. Wer zu Fuß geht, stellt sich eine andere Welt vor: Sein und Teilhabe statt Besitzen und Haben. Bewahrung statt Verschwendung, Bewegung statt Konsum. Weniger statt Mehr. Unterwegs in eine neutralere Klimabilanz. Nur eine Welt, die so beschaffen ist, bildet einen sozial gerechten Lebensraum. Damit formuliere ich kein definitives Ziel, das irgendwann erreicht wird, und dann gut. Wenn es dieses Ziel überhaupt gibt, dann ist es der Weg, der immer weiter in eine menschenfreundliche Zukunft führt. Ein Weg, der niemals endet, auf dem aufeinanderfolgende Generationen einen Staffelstab weiterreichen, die eine an die nächste. Nun kann ich eine Frage beantworten, die mich in den letzten Tagen umgetrieben hat. Ich habe meine Identität gefunden: Ich bin ein Wanderer-Pilger.
Copyright 2016 - 2025. All Rights Reserved (Texte und Fotos)
Ein vorläufiges Ende ist geistiges Eigentum des Autors und urheberrechtlich geschützt. Die Seiten und deren Inhalte dürfen nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.
Jegliche unautorisierte und gewerbliche Nutzung ist untersagt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen