Keiner kommt von einer Reise
so zurück, wie er weggefahren ist.
Graham Greene
Ich verlasse das seltsame Pfarrhaus in Skassa früh morgens. Irgendwie unwirklich die Atmosphäre im Haus; mit der einsilbigen und distanzierten Pfarrersfamilie, mit einem Durcheinander, das ich in einem Pfarrhaus nicht erwartet habe. Überall liegen Dinge herum. Eine Patina aufeinander gelagerter Schichten von Arbeit und Leben überzieht alle Räume. Mein Quartier eher ein Kinderzimmer. Wäre ich ein Location Scout, ich hätte die ideale Umgebung für einen Film gefunden, der vom Leben eines Landpfarrers in der DDR erzählt. Wieder bin ich der einzige Gast. Die Familie des Pfarrers, der nebenbei die Herberge im oberen Stockwerk führt, ist zurückhaltend. Sie scheinen zu fremdeln, und ich wundere mich, warum sie Pilger aufnehmen. Ich freue mich und bin ihnen dankbar, dass sie das tun, ich wäre sonst im Regen ertrunken. Und ich finde die Umgebung heimelig, durchdrungen vom Leben der Bewohner. Überhaupt nicht abweisend. Obwohl im selben Haus, gibt es keine Begegnung. Nicht das die anderen Pfarrer oder Herbergseltern besonders kommunikativ waren. Doch einen kurzen Plausch gab es immer.
Heute Morgen ist die Familie schon auf den Beinen, als ich aufbreche. Sie lädt Sperrmüll in den Kofferraum ihres Volvos. Von dem heftigen Unwetter, das gestern in fünfundvierzig Minuten über uns hinweggefegte, ist wenig geblieben. Dreißig Liter pro Quadratmeter Wasser sollen abgeregnet sein. Zurückgeblieben ist eine graue Decke, hinter der sich die Sonne und den blauen Himmel nur vermuten lässt. Zu sehen ist davon nichts. Dafür ist es warm, und die Luft mit Feuchtigkeit übersättigt.
Dichter Dunst hängt in der Luft, der alles mit einem Schleier aus Wassertropfen benetzt. Als ich mich von den Pfarrersleuten verabschiede, fängt es an zu tröpfeln. Die Luft ist so nass, dass ich den leichten Regen kaum bemerke. Kurz darauf schaue ich zurück, und die Kirche und das Pfarrhaus verschwimmen im Dunst. Vorbei an einer Reihe Neubauten verdrückt sich die Via Regia aus Skassa in die Felder. Der Weg ist mit Platten ausgelegt, und schon wieder trocken. Keine Pfützen, keine Wasserlachen, keine matschigen Schuhe, keine nassen Füße. An einer Seite des Wegs wachsen Linden. Ich glaube allmählich, dass ich am Ziel meiner Wünsche eines vermissen werde: das Wandern auf irgendetwas zu. Inzwischen regnet es stärker, und ich brauche meine Regenhülle für den Rucksack und ziehe mir den Poncho über. Wenig später bin ich unter der gummierten Haut des Ponchos nasser geschwitzt, als ich im Regen geworden wäre. Es ist drückend und schwül. Ich werde mich nass wandern, nicht im warmen Sonnenschein, sondern durch den gestrigen Regen, der nun verdunstet.
In Weißig am Raschütz, in einer idyllischen Landschaft am Nordrand der Großenhainer Pflege, mitten in der sanften Hügellandschaft an der Grenze zum Westlausitzer Bergland, sind meine Füße wieder nass. Ich spüre, wie die Haut um meine Zehen weicher wird. Der unscheinbare Ort existiert seit dem Mittelalter, wurde 1398 als Wissok, slawisch für eine hoch gelegene Siedlung, gegründet. Im Dreißigjährigen Krieg und während des Vormarsches der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Dorf fast vollständig zerstört. Wenige Gebäude sind nach den Kämpfen stehengeblieben, und der Ort wirkt wie eine neue Siedlung. Die erhalten gebliebene Turmholländermühle aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Norden des Dorfes, winkt zwischen all den Neubauten fremd und aus der Zeit gefallen. Sie gehört nicht mehr hierher, verharrt einsam und verlassen da, ein trauriger Clown, der nicht recht versteht, was das Publikum von ihm will. Ein Mann am Gartenzaun erwartet mich schon, und fragt mich das Übliche: Woher? Wohin? Ich habe meine Floskeln allzu bereit, denn meistens stirbt die Neugierde der Einheimischen schnell. Wir reden auch über das Wetter und die Prognose. Worüber sonst, wenn man sich nicht kennt, und freundlich sein will, sich einen Moment später schon wieder verabschiedet. Nachmittags soll die Sonne scheinen. »Ich glaube das nicht,« sagt der Mann, der sein ganzes Leben hier verbracht hat. Ein Blick nach oben, und ich glaube ihm aufs Wort. Regional ist der Regen sehr fraktioniert. Wenn es in Skassa heftig regnet, bleibt es ein paar Kilometer trocken. Erneut die Theorie der verdächtigen Hochspannungsleitungen, die den Regen umleiten. »Bis Freitag,« weiß der Mann, und ich hoffe nicht, dass er recht hat, »ändert sich das Wetter nicht.« Meteorologisch dreht sich ein stationäres Hoch über Mitteleuropa, dass zwischen mehreren Hochdruckgebieten gefangen ist. Den Mann interessiert der naturwissenschaftliche Wetterbericht nicht. Er vertraut seinen Erfahrungen. Der Dorfkrug bietet ein preiswertes Pilgermenu bei Vorlage des Pilgerausweises; eine spanische Tradition im westlichen Sachsen. So früh am Morgen ist das Wirtshaus noch geschlossen. Ich bin nicht hungrig und Pilgermenus gehören ohnehin nicht zu meinem Frühstück. Vor dem Dorfkrug die Bushaltestelle. Wieder bin ich versucht, mit dem Bus weiterzufahren. Meine nassen Füße nerven, und der Schuh drückt gegen meine beiden Blasen. Glaubitz oder Zeithain wären nicht schlecht. Aber der Bus nach Zeithain fährt erst in zweieinhalb Stunden. Das ist keine Alternative und ich habe ein weiteres Mal das Glück, nicht fliegen zu können, und muss mich in meine Lage fügen. Bequemlichkeit ist der einfachste Weg allen Herausforderungen auszuweichen. Als Strategie für eine Veränderung ist sie untauglich. Eine positive Bilanz ist auf den ständigen Wechsel von hoch und tief, leicht und schwer, Freude und Leid angewiesen.
Kilometer um Kilometer gehe ich auf der Via Regia über asphaltierte Wirtschaftswege. Es ist nass und es bleibt nass. Es regnet nicht. Mir kommt es vor, als führt der Weg durch feuchte, unsichtbare Wolken. Ein dünner Wasserfilm macht die Luft schlüpfrig. Niemand ist unterwegs. Ich bin allein, unlustig und genervt. Die allgegenwärtige Feuchtigkeit legt ihren Schleier über die Landschaft, die in dem grauen Licht ertrinkt. Der Glaubitzer Wald bietet ein wenig Abwechslung, auch wenn es von den Blättern tropft und sich meine Stimmung nicht bessert. Inzwischen klebt alles am Körper, meine Hände fühlen sich schmierig an, mein Körper riecht unangenehm, die Haare hängen strähnig in die Stirn. Allmählich mag ich mich nicht mehr riechen. Meine Empfindungen drängen sich in meine Gedanken. Ich beschäftige mich unablässig mit meinen schlechten Körpergefühl und den widrigen Wetterbedingungen, komme mir vor wie in den Tropen, obwohl die Temperatur nicht dazu passt. Es fällt mir schwer, einen anderen Gedanken zu fassen, während die Landschaft um mich herum an Bedeutung verliert, weil ich sie kaum noch wahrnehme. Ich will nur noch weiter, ankommen, und überlasse mich ganz dem Klack-Klack meiner Stöcke, kämpfe mich verbissen weiter, durch eine Feuchtigkeit, die die Luft schwer macht. Meine Gelassenheit hat sich aufgelöst, mein Humor ist zerronnen. Der Kuckuck ist noch da. Er ruft mir eingeschüchtert zu, aber muntert mich nur kurz auf. Wenn er durchhält, sage ich mir, warum ich nicht auch.
Ohne Pause klappere ich mit meinen Stöcken nach Glaubitz, und erreiche den Ort schneller als erwartet. Im Wartehäuschen einer Bushaltestelle bleibe ich für eine Rast. Während ich Wasser trinke und Datteln esse, rauschen auf der B 98 wieder LKW durch einen kleinen Ort, der nicht dafür geschaffen ist. Auf der engen Straße, mit dem schmalen Bürgersteig, donnern sie mit hoher Geschwindigkeit durchs Dorf, ungeachtet der Transparente, die verzweifelt eine Umgehungsstraße fordern. Warum wehrt sich niemand gegen diese Zumutung, gegen die Zerstörung von Lebensqualität und Sicherheit? Der Fahrtwind eines LKW trifft mich wie eine Bö. Wütend hänge ich aggressiven Fantasien nach, während ich verdrossen weiterstapfe. Bis Zeithain ändert sich nichts, aber ich habe den Radweg für mich allein, der die lärmend vorbeirasenden LKW in erträglichem Abstand hält.
Zeithain empfängt mich mit einem Gefängnis, einer Justizvollzugsanstalt, wie diese Anstalten beschönigend heißen. Vollzogen wird der Freiheitsentzug, Resozialisation gut und günstig, mit geringem Effekt. Am Zaun ein absurdes Hinweisschild: Es ist bei Strafe verboten, mit den Gefangenen Kontakt aufzunehmen. Wie soll das möglich sein. Der Zaun und eine weitere Gefängnismauer liegen zwischen mir und den vergitterten Fenstern der JVA. Zwischen den Zäunen grasen Ziegen und Schafe, die das Klappern meiner Stöcke beim Wiederkäuen stört. Aufgeschreckt glotzen sie mir hinterher. Ein freundlicheres Schild lädt mich auf eine Rast ein. Zum Austausch mit Gefangenen. Die JVA, lese ich, ermöglicht ausgewählten Häftlingen eine Pilgerfahrt auf der Via Regia. An der Pforte werde ich abgewiesen; jetzt ist nicht die richtige Zeit. Irgendein besonderer Tag, ganz verstanden habe ich den Pförtner nicht. Eine Mahlzeit mit den Gefangenen, dazu das Gespräch; davon wollte er nichts wissen.
Wie jede totale Institution besteht die JVA in Zeithain auf dem ungestörten Ablauf ihrer Strukturen. Die Gefangenen, die gepilgert sind, machen mich neugierig. Doch ich lerne sie nicht kennen, und mir bleiben die Sicherheitsvorschriften und die Prozedur, die nötig sind, in eine JVA hineinzukommen, erspart. Die dunklen Regenwolken in meinem Rücken drängen mich zur Eile. Zeithain ist belebter als Glaubitz. Die LKW müssen vor dem Ort auf eine Umgehungsstraße ausweichen, und dem Dorf bleibt das Schicksal des benachbarten Glaubitz erspart. Fahrräder sind im Ort verbreiteter, und nur eine alte Frau kommt mir zu Fuß entgegen. Freundlich lächelt sie mich an. »Pilger trifft sie gern,« verrät sie mir, »sie erzählen ihr manch Interessantes von unterwegs.« Sie fragt auch mich aus, will von mir wissen, wo ich herkomme, wie lange ich schon unterwegs bin, warum ich pilgere. Viel Interessantes kann ich ihr nicht bieten. Der Regen ertränkt meine Fußreise mittlerweile in nasse Belanglosigkeiten. Nichts Besonderes ereignet sich mehr. Jedenfalls nichts, was ich Fremden mitteilen möchte. Die Landschaft, durch die ich gekommen bin, kann jeder erleben, der sich auf den Weg macht. Die Gefühle und Gedanken, die eine Fußreise in mir auslösen, sind auf die Schnelle ohnehin nicht teilbar. Mitteilbar werden sie erst in der nachträglichen Reflexion. Ich glaube, sie kann das verstehen, denn sie erzählt mir noch, dass sie selbst immer wieder eine kurze Etappe auf der Via Regia pilgert, soweit ihre Gesundheit das zulässt. Abends fährt sie meistens mit dem Bus zurück nach Hause. »Der Weg,« ruft sie mir im Abschied zu, »wird jetzt immer schöner.«
Auf einer Bank gegenüber der Kirche lege ich meinen Rucksack ab, setze mich auf das feuchte Holz und ziehe mir die nassen Schuhe aus. Auf die Befindlichkeiten der Passanten, die mir befremdliche Blicke zu werfen, nehme ich schon längst keine Rücksicht mehr. Ich kann nicht kurz nach Hause gehen, um meine Bedürfnisse zu erledigen. Ich lebe unterwegs, ohne privaten Rückzug, und kann mich um solche Kleinigkeiten nicht kümmern. Tagelanges Wandern bringt eine gewisse Verwahrlosung mit sich. Alles an mir ist feucht oder nass, und ich muss dringend meine Blasen neu tapen, damit sie im nassen Schuhklima nicht aufplatzen. Das kinesiologische Tape hat sich inzwischen von der Haut abgelöst und drückt störend auf die Blasen. Eine dritte große Blase blüht an meinem linken Zeh. Es ist schon zu lange zu nass, und das Mikroklima meiner Schute tropisch. Ideale Bedingungen damit die Haut sich löst. Im Zentrum von Zeithain lasse ich meine Füße trocknen, und klebe alle Blasen ab. Doch Schuhe und Socken trocknen nicht so schnell. Es bleibt mir keine Wahl. Schließlich ziehe ich beides nass wieder an. Es dauert noch eine Weile, bis es wirklich schöner wird.
Ich verlasse Zeithain auf dem unbefestigten Rand einer stark befahrenen Landstraße, über einen Bahnübergang und an einer Kiesgrube vorbei. Hinter einem Zaun verbellen mich Hunde, die ihr Territorium bedroht sehen. Jenseits der Umgehungsstraße stoße ich die ehemalige, wenig frequentierte Landstraße nach Gohlis, wo sich das Versprechen der alten Frau aus Zeithain erfüllt. Gohlis selbst ist ein Ort ohne Charme, aufgeräumt und menschenleer. Seinen Reiz macht seine Lage an der Elbe aus. Als ich an den letzten Häusern um eine Ecke biege, sehe ich das breite Band der Elbe plötzlich und unerwartet vor mir liegen. Schmutzig grau, schwer wie Blei, ein Spiegelbild des Himmels über mir. Ich habe es geschafft: Ich bin von der Neiße an die Elbe gegangen; zu Fuß. Wie gut sich das anfühlt! Plötzlich bin ich glücklich und der ganze Tag, mit all seinen kleinen Widrigkeiten versinkt in der Bedeutungslosigkeit. Ich stehe am Ufer der Elbe. Und es gibt, so wie es sich gehört, einen Rastplatz. Elbeblick, über den Fluss, bis hinüber ins dunstverhangene Strehla. In gleichen Augenblick bricht eine blasse Sonne durch die graue Wolkendecke, der ideale Moment, wie geschaffen für eine längere Rast, auch wenn die Bank feucht ist, und ein kalter Wind um die Hausecke bläst. Ich ziehe die nasse Weste aus, Schuhe und Socken, und lege mich ausgestreckt auf die Bank. Die Sonne bleibt, spendet etwas Wärme, und während ich den Wolken zu schaue, wie sie über den Himmel ziehen, döse ich zufrieden ein. Ich werde wach, weil ich friere. Am Gartenzaun gegenüber maunzt eine rollige Katze. Neugierig kommt sie herüber, mustert mich interessiert, und reibt sich schließlich genüsslich schnurrend an meinen Beinen. Während ich mir noch Büschel ihrer Haare von der feuchten Hose klaube, schreitet sie mit hoch erhobenem Schwanz majestätisch von dannen.
Der Himmel über mir hat sich ein weiteres Mal den dicken schwarzen Wolken überlassen. Eilig ziehe ich mich an, packe meine Sachen zusammen und gehe über den Elbdeich nach Lorenzkirch, ein kleiner Weiler mit Wallfahrtkapelle am Ufer der Elbe. Gegenüber liegt Strehla, wohin eine Fähre ans andere Ufer übersetzt. In Gohlis treffe ich wieder auf den Elbradweg. Auf der Deichkrone komme ich zügig voran, getrieben von den dunklen Wolken. Noch regnet es nicht. Ich eile unter einer Reihe mächtiger Ulmen, die die Elbaue säumen, auf den Fähranleger zu. Über mir spektakelt eine Schar Krähen, die in den Kronen der Bäume eine Kolonie gegründet haben. Der Lärm, den sie machen, die Hektik in den Ästen, ist ansteckend; der Asphalt unter den Bäumen weißgefleckt von Vogelexkrementen. Ich werde hektisch, beeile mich weiterzukommen und weiche den gefährlich weißen Flecken aus, während ein Bauer, den ein Storch begleitet, neben mir die Wiese mäht.
Die Elbe ist an der Furt nicht sehr breit. Die kleine Fähre, die vielversprechend Nixe heißt, liegt am anderen Ufer. Der Fährmann sitzt lässig rauchend auf einer Bank. Er unterhält sich mit einem Kollegen, kann mich sehen. Ich winke, doch er reagiert nicht, weil ich sein Ritual missachte. Ich muss ihn mit der Glocke rufen, bevor er aufsteht, und zu mir herüberkommt. Er faselt davon, dass ich als Pilger Geduld lernen muss, und ich dafür wohl bis Spanien laufen muss. Ich habe ihn nicht wirklich verstanden, und auch nichts zu sagen, und nach Geduld und zu Fuß gehen sieht der korpulente Fährmann auch nicht aus. Ein paar Minuten später steige ich auf der anderen Seite aus und bin ihn los. Im Supermarkt lerne ich unverhofft meine heutige Gastgeberin kennen. Gleich erkennt sie in mir den Pilger, der ich bin, spricht mich an, und fragt, ob ich es war, der heute Morgen angerufen hat. Ein kurzer Small Talk, dann ist sie fort, und ich folge ihr gemächlich den Berg hinauf zur Pilgerherberge.
Strehla präsentiert sich am Nachmittag als eine quirlige Kleinstadt. Schloss und Kirche liegen sich auf einem Berg über dem Elbufer gegenüber, seit Jahrhunderten im stillen Zwiegespräch. Die historische Altstadt der Stadt besetzt das Hochplateau über Elbe. Wie die meisten der kleinen Städte, durch die ich gewandert bin, dehnt sich auch Strehla vom zentralen Marktplatz aus, mit dem restaurierten Marktbrunnen und einer Postsäule, die die Entfernungen in die Nachbarorte auflistet. Einträchtig grenzen Rathaus, Kirche und das Schloss an den Markt. Vor der Herberge treffe ich die Frau aus dem Laden wieder, die Bettwäsche in die Nachmittagssonne hängt, die sich jetzt, wo ich sie nicht mehr brauche, kurz sehen lässt. Sie führt mich in den Schlafsaal der Herberge und drückt mir, nachdem ich gezahlt habe, den Stempel in meinen Pass. Dann folgt ihre erste Lektion:
Der Wachturm auf dem Stadtwappen von Strehla erinnert an den Hamburger Heinrich, der König von Sachsen werden wollte. Er ließ diese Wachtürme im Stadtgebiet bauen und verfügte, dass alle den Familiennamen Sachsen führen müssen. Der Pfeil, slawisch streil, bedeutet, dass Strehla nur einen Pfeilschuss weit von der Elbe entfernt ist. Was mir die Frau über den goldenen Stern im Wappen erzählt hat, habe ich leider vergessen. Ich war zu sehr darauf versessen, die aus Keramiken bestehende Kanzel zu sehen, und etwas zu sehr in Eile, um aufmerksam zuzuhören.
Der aus Lindenholz geschnitzte Altar zeigt das Abendmahl mit vierzehn Jüngern; die beiden überzähligen sind Luther und Melanchton; zwei Aufgestiegene. Doch das ist unsicher; es können auch zwei der Auftraggeber sein. Die Kreuzigungsszene zeigt eine ohnmächtige Maria, vielmals kopiert, ganz besonders in der Lausitz. Den Altar haben die Schlossherren von Pfahl als ihr Grabmal gestiftet, die unter dem Chor begraben liegen. Dort befindet sich auch ein Stolperstein mit einem Epitaph für einen der Ihren, der auf einer Pilgerreise nach Jerusalem in Syrien verstarb. Ein anderer von Pfahl fiel vor Rhodos und erhielt ein Seebegräbnis; dargestellt als Schiff und geschwelltem Segel auf der Empore. Eine Kreuzfahrerfamilie, Maurentöter, mit zwielichtigem Ruf. Noch viel mehr erzählt mir die kundige Führerin, unmöglich alles zu behalten. Ich werde wohl wiederkommen müssen, um mir den Rest nicht einmal anzuhören.
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