In Hamburg lebten zwei Ameisen,
Die wollten nach Australien reisen.
Bei Altona auf der Chaussee,
Da taten ihnen die Beine weh,
Und da verzichteten sie weise
Dann auf den letzten Teil der Reise.
Joachim Ringelnatz
Als ich gefragt wurde, warum ich pilgere, antworte ich, um den Weg zu finden. Das ist zwar richtig, doch gleichzeitig noch viel mehr. Nicht nur den Weg finden, sondern ihn auch gehen, insbesondere ihn zu Ende gehen. Nicht aufgeben, wenn es schwierig wird, die Füße schmerzen, die Rückenmuskel nicht mehr tragen wollen, und der Rucksack auf die Schultern drückt. Weitergehen, weil ich noch nicht angekommen bin, und bis zum Ankommen noch Zeit brauche. Mir etwas zumuten, weil ich eine Entscheidung getroffen habe, und dafür einstehen will.
Im Pilgern spiegelt sich das Leben. Der Lebensweg als eine Wanderung. Welch eine schöne Metapher, und wie gut sie mir gefällt. Alle Höhen und Tiefen meines Alltags, jede Begeisterung und jede Frustration, Freude und Kummer, Sorge und Erleichterung, Wohlgefühl und Schmerz. Nichts ist anders auf einer Wanderung, ob Pilgerfahrt oder Fußreise. Draußen in der Welt ist es genauso wie zu Hause. Es gibt keinen wirklichen Unterschied zwischen Innen und Außen, doch es hat gedauert, bis ich diese Wahrhaft endlich begriffen habe. Dennoch, ich spüre eine Differenz: Wandern ermöglicht es mir, unmittelbar den Augenblick zu leben, im Hier und Jetzt sein, da es nichts Anderes gibt als mich und den Weg. Pilgern ist nicht wandern, da dem Wanderer Natur und Landschaft, dem Pilger aber der spirituelle Impuls des Gehens wichtig ist. Was beide verbindet ist das leibliche Spüren, die affektive Betroffenheit des »Ich gehe, also bin ich.«
Wurzen ist eine Große Kreisstadt im Landkreis Leipzig. Der für fantasievolle Assoziationen offene Name der Stadt leitet sich von dem slawischen Wort wǫrce ab, was Höhe oder Erhebung bedeutet und wahrscheinlich auf den kleinen Hügel im Tal der Mulde verweist, auf dem die Stadt liegt. Wutzen wird 961 erstmals in einer Urkunde Otto I. als Vurcine und Civitas erwähnt, erwähnt. Die Meißener Bischöfe erwarben die Region Wurzen bereits im 10. Jahrhundert und residierten hier bis ins späte 15. Jahrhundert. Die Burg und die Marktsiedlung bezogen ihre Bedeutung aus ihrer Lage am Übergang der Via Regia über die Mulde an der Kreuzung mit einer der Salzstraße von Halle nach Prag.
Wurzen liegt heutzutage am Ökumenischen Pilgerweg, der 2003 vom sächsischen Jugendpfarramt eingerichtet wurde, und im Wurzener Land Richtung Leipzig weitgehend der alten Trasse der mittelalterlichen Via Regia folgt. Straßennamen - Jakobsplatz, Jakobsgasse - oder Gebäude - Jakobskirche, Jakobskirchhof und Jakobshospital - erinnern noch immer an die mittelalterliche Jakobspilgerschaft, an die der Ökumenische Pilgerweg anknüpft.
Was mich an Wurzen fasziniert, ein Ort, von dem ich nie zuvor gehört hatte, ist das Ringelnatz-Geburtshaus, mit Stallung und Garten das letzte Beispiele, eines der klassizistisch überformten Stadtgüter aus dem Barock, die die Stadt Wurzen über Jahrhunderte prägten. Wie an solchen Gebäuden üblich, erinnert seit 1945 eine Holzschnitt-Gedenktafel an den berühmten Sohn der Stadt. Nach umfangreicher Sanierung wurde das Gebäude 2023 als Literaturhaus und Kunstbühne feierlich wiedereröffnet wurde.
Joachim Ringelnatz war ein kreatives Multi-Talent, Lyriker und Schriftsteller, Maler und Kabarettist, der neben Kinderbüchern und Dramen auch humoristische Gedichte schrieb. Ringelnatz gehört zu den Persönlichkeiten, wie zuvor schon Jakob Böhme in Görlitz und Gotthold Ephraim Lessing in Kamenz, denen ich an der Via Regia wiederbegegnet bin, und deren Schaffen auf sehr unterschiedliche Weise bis heute nachwirkt: Böhme der Mystiker, Lessing der humanistische Aufklärer und Ringelnatz der Satiriker und Comedian. Joachim Ringelnatz, der bürgerlich Hans Gustav Böttcher hieß, wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Wurzen geboren, weshalb die Stadt inoffiziell Ringelnatzstadt genannt wird.
Sein schräger, an Dada grenzender Humor trifft spitzer, als auf den ersten Eindruck erkennbar ist. Nun kommt er für alle Ewigkeit zu Wort: Humor ist der Knopf, der verhindert, dass uns der Kragen platzt. So hat er sich gesehen, der Ringelnatz, aber auch mit langer Nase und zackigen Profil, das zur Karikatur reizt. Es ist immer schwer, zu erkennen, ob er es ernst meint. In der Weimarer Republik war er bekannt und zählte Schauspieler* innen wie Asta Nielsen und Paul Wegener zu engen Freunden und Weggefährten. Sein witziges und geistreiches, teils skurriles, expressionistisches Werk hat den Nationalsozialismus überlebt.
Ringelnatz` Alter Ego war die Kunstfigur Kuttel Daddeldu, ein Seemanns-Wort für Feierabend und Nachtruhe, entlehnt aus dem Englischen: »That’ll do“ für „Nu’ is’ aber ma’ Schluss!«
Der knurrige Seemann Kuttel Daddeldu tauchte erstmals im Gedicht Vom Seemann Kuttel Daddeldu auf und war 1920 die Hauptfigur in seinem Gedichtband Kuttel Daddeldu oder Das schlüpfrige Leid.
Kuttel Daddeldu sitzt auf der Kaikante
und pfeift ins Wasser hinab.
Seine Beine baumeln wie Glocken,
und seine Seele ist schlapp.
In diesem Werk erschien der Seebär Kuttel Daddeldu in schwarzhumorigen Balladen und Moritaten, mit denen Ringelnatz in den 1920ern und 1930ern Jahren auf der Kabarettbühne auftrat.
Ich bin der Seemann Kuttel Daddeldu,
Ich segle mit meiner Schaukelbarque
In eine Kneipe, trink Rum und Kakao,
Und manchmal auch Likör mit Muckefuck.
Ich bin der Seemann Kuttel Daddeldu,
Hab` Seepocken an meiner Seele.
Ich sauf’ wie ein Loch, ich fluche wie zehn,
Und manchmal küsst mich ’ne fette Makrele.
Joachim Ringelnatz war ein Sprachakrobat, der es verstanden hat, seine ganze Persönlichkeit zu stilisieren und Werk werden zu lassen: skurril, expressionistisch, witzig und geistreich. Nicht verwunderlich, dass ihn die völlig humorlosen Nationalsozialisten nicht mochten, seine Bücher 1933 verbrannten und ihn mit Auftrittsverboten belegten. Ringelnatz nahm alles auf die Schippe – Seefahrt, Sport, Liebe, Religion, sogar sich selbst. Er mischt in seinen Versen im selben Atemzug Unsinn, Tiefsinn und Spott. Vieles klingt bei ihm auf den ersten Blick albern, auf den zweiten aber sehr klug oder melancholisch. Er liebte es, Sprachspiele, Schrägheit und unerwartete Bilder zu bauen. Immer haben seine Verse dieses spöttisch Anarchische, schräg-poetisch und traurig-schön, zugleich, in wenigen Worten, einmal scharf und bitter, dann wieder frech und absurd, wie beispielsweise seine leicht satirisch gebrochene Nationalromantik, die die Nazis natürlich gar nicht mochten:
Ich hatte einst ein schönes Vaterland.
Der Eiche seine Kraft, dem Deutschen seinen Fleiß –
Das alles ist vergangen, wie ein Dunst von Bier und Schweiß.
Überall auf der Welt gibt es Menschen,
die ununterbrochen damit beschäftigt sind,
das Leben anderer Menschen zu verderben.
Mit seinem Aphorismus Manchmal schaudert selbst das Meer, wenn es in sich selber blickt, wagt er sich selbst an Nietzsche und parodiert dessen Aphorismus: Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. Während Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse die Gefahren für den Philosophen oder freien Geist diskutiert, sich selbst beim Streben nach Erkenntnis zu verlieren. Nietzsche warnt vor der Gefahr, sich zu sehr mit dem Bösen oder dem Chaos zu beschäftigen, um nicht selbst in die Gefahr zu geraten, dass diese Dunkelheit zurückwirkt und einen selbst verändert oder korrumpiert, wirft Ringelnatz die gleiche Frage absurd unergründlich auf.
Was sich Ringelnatz dabei gedacht hat, als er seinen Aphorismus vom schaudernden Meer verfasste, weiß ich nicht, doch seine absurd verpackte Gesellschaftskritik dringt noch immer zu uns durch. Wenn unsere Gesellschaft sich ehrlich selbst betrachtet, also ihre eigenen Schwächen und dunklen Seiten erkennt - soziale Ungerechtigkeit, Radikalisierung, Umweltzerstörung, Kriege, Klimawandel, Pandemie, gesellschaftliche Spaltungen, der Umgang mit Populismus, autoritären Tendenzen oder sie Krise der Demokratie - müsste sie das gleiche Schaudern ergreifen wie das Meer im Ringelnatz-Aphorismus. Die demokratischen Gesellschaften müssen erkennen, dass sie nicht so stabil und gerecht sind, wie ihr Anspruch es formuliert. Ein schockierender, gern verdrängter Sachverhalt, den der Ringelnatz-Aphorismus symbolisch auf den Punkt bringt. Wir leben in einer Zeit, in der die Welt in ihren eigenen Abgrund blicken muss, um den Schock, den sie dabei erlebt, konstruktiv zu sublimieren.
Der Ruhm von Ringelnatz und die Beliebtheit seines Kuttel Daddeldu änderte sich mit dem Nazi-Auftrittsverbot, das ihn schwer getroffen. 1934 starb er verarmt in Berlin. Die Stadt Wurzen aber hat ihren närrischen Sohn nicht vergessen und ihm ein Denkmal unmittelbar neben dem Dom St. Marien der evangelisch-lutherischen Stiftskirche des Wurzener Kollegiatstifts gesetzt.
Der Dom Sankt Marien zu Wurzen ist geöffnet. Ein Impuls drängt mich einzutreten. Hätte ich geahnt, was er beherbergt, ich hätte es mir noch anders überlegt, denn er hat die Stimmung meiner Ringelnatz-Recherche auf Smartphone zerstört. Die Atmosphäre im Kirchenschiff, und die äußerst expressive Wrba-Ausstellung im Innenraum der Kirche haben mir nicht gefallen. Als Kunstausstellung mag sie durchgehen, als Anregung für eine Meditation finde ich völlig ungeeignet. Aber das ist eine Frage des Geschmacks, über den sich bekanntermaßen nicht streiten lässt. Die Skulpturen haben mich in ihrer Düsternis und erschütternden Aufdringlichkeit ins Herz getroffen. Um mich im Raum verteilt, starren mich in ihrer Schwärze konturlose Skulpturen an, sodass ich mich spontan ducke. In ihrer Anwesenheit kann ich nicht meditativ loslassen. Ihre Blicke und ihre Präsenz bedrängen und erschrecken mich. Sie sind allgegenwärtig mahnend.
In den 1930er Jahren war die Bausubstanz des Wurzener Doms aufgebraucht. Chorgestühl, Kanzel, Altar und die Betstuben des Mittelschiffs waren baufällig geworden. Im Zusammenhang mit der Umgestaltung des Innenraums entwarf der Dresdener Bildhauer Georg Wrba, einer der bedeutendsten deutschen Bildhauer, einen Zyklus spätexpressionistischer Skulpturen aus Bronze. Die Figur des Gekreuzigten mit seinen beiden Leidensgefährten beherrscht die Kreuzigungsgruppe hoch über dem Altar. Das Lesepult an der Grenze des Altarraums zeigt eine knieende, athletische Figur, die ein flaches Pult flehend über ihren Kopf hebt. Je vier, mit den Eigennamen der ehemaligen Domherren versehen, erratisch wirkende Domherrenstühle flankieren den Ostchor. Fast unerträglich empfinde ich die an einen Aufzugschacht erinnernde Kanzel, ein langer bronzener Quader, der weit in den Raum ragt, über die Köpfe der Anwesenden hinweg. Die Basis der Kanzel versammelt gruppierte Apostelköpfe, die die Gesichtszüge damaliger Domherren tragen; Mahnmal narzisstischer Selbstdarstellung. Der Metallspende des deutschen Volkes im Zweiten Weltkrieg entgingen die Bronzen. Den Nationalsozialisten haben sie anscheinend gefallen.
Ich bin schon früh hellwach. Es schwebt noch ein Hauch Morgenröte am östlichen Horizont; der letzte Gruß der anmutigen, schön gelockten und rosenfingerigen Eos, der Erigeneia, der Früherwachenden, in ihrem safranfarbigen Kleid, für Homer solch schöne Epitheta fand. Wie konnten die Römer sie nur mit Aurora verwechseln, nach der sie das rot-grünliche Polarlicht benannten? Und wie wurde eine sanfte Schönheit wie Eos die Mutter der vier Winde: von Zephyr, dem milden Westwind, von Notos, dem Südwind und Boreas, dem rauen, winterlichen Nordwind, schließlich von Euros, der aus der Richtung bläst, on der seine Mutter morgens ihre Farbpalette zückt. Vielleicht gehen mir diese Gedanken durch den Kopf, weil mein letzter Tag auf der Via Regia angebrochen ist, und ich ab morgen die Natur im Dickicht der Stadt vermissen werde.
Damian schläft noch, tief in seinen Schlafsack verkrochen. Er hat es sicher nötig, die letzten beiden Nächte hat er in Hochsitzen geschlafen, sicher ungemütlich und eng. Da ist die Herberge der Kräuterfee etwas anderes. Eine richtige Wohnung für eine Nacht, denn morgen geht es weiter. Unterwegs zu sein. Sich im Gehen finden, bei sich sein und immer wieder ankommen. Solvitur Ambulando! wie es Augustinus formuliert, um Zenons Paradoxon zu lösen. Moderner: Rock The Road!
Solitär? Schon das Pilgern zu zweit oder in der Gruppe löst die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen, stört Selbstwahrnehmung und Kontemplation, die neben der Herausforderung der Landschaft das eigentliche Motiv für das Pilgern bilden. Schritt für Schritt findet sich im Gehen die Lösung, die jeder für sich sucht. Søren Kierkegaard, der dänische Philosoph und evangelisch-lutherische Pfarrer, hat einmal seiner Schwester geschrieben: Ich habe mir meine besten Gedanken ergangen und kenne keinen Kummer, den man nicht weggehen kann. Aber eine Wohnung wie die in Wurzen, und wenn auch nur für eine Nacht, ist nach den Entbehrungen von Tagen der Geschmack von Heimat. Eine Oase auf dem Weg. Manche Herbergseltern wissen das oder sie spüren es intuitiv im Blick des Pilgers. Zu erleben, dass Heimat überall sein kann, die sich in Begegnung, Teilhabe und Annahme ausdrückt, ist eine der zentralen Erfahrungen des Pilgerns, die jeden Weg lohnt.
Ich bin bereits im Aufbruchsmodus, als Damian aufsteht. Strahlend und ausgeschlafen steht er an der Kaffeemaschine, als ich meinen Rucksack im Gemeinschaftsraum hole. Nur noch Kaffee, dann bin ich auch weg, sagt er. Als wir uns verabschieden, bin ich sicher, ihn noch einmal wiederzusehen. Er ist der Roadrunner, nicht ich. Auf dem Weg nach Leipzig wird er mich überholen.
Wurzen schläft noch, früh an diesem Samstagmorgen. Die Stadt ist ruhig, und mir begegnet nur ein Junge auf der Morgenrunde mit seinem Hund. Ich gehe noch einmal zum Dom, will mich auch von Ringelnatz, dem berühmtesten Sohn der Stadt verabschieden. Ihm sind dort zwei Stelen gewidmet, auf denen sein schräger Humor für die Ewigkeit zu Wort kommt:
Lieber Gott, Ich liege im Bett. Ich weiß,
ich wiege seit gestern fünfunddreißig
Pfund. Halte Pa und Ma gesund. Ich bin
ein armes Zwiebelchen, nimm mir das
nicht übelchen.
Auf der runden, goldenen Stele, die diesen Vers von Joachim Ringelnatz zitiert, erhebt sich, vielleicht vom Dichter selbst, eine geschlossene Hand, den Zeigefinger mahnend zum Himmel gestreckt. Wer hier wohl etwas falsch verstanden hat, denke ich mir im Stillen, und verlasse im Schatten der trutzigen Burg der Wurzener Bischöfe die Altstadt in Richtung Stadtpark, ohne die im Straßenpflaster eingelassene Jakobsmuschel gefunden zu haben. Vielleicht hat sie auch jemand mitgenommen, denn jeder Wanderführer büßt im Lauf der Zeit an Aktualität. Besser Ich hätte die Kräuterfrau gefragt. Schloss Wurzen ist ein Residenzschloss, der einzige gotische Bischofssitz mit Restaurant und Hotelbetrieb. Für Pilger oder Wanderer wie mich ungeeignet. Zu viele Sterne prangen an der Wand der Gastronomie. Bescheidenheit ist wichtig unterwegs, kein leeres Gerede und unmodern, denn zu viel Luxus versperrt den Blick auf das Wesentliche, will Wandern mehr als Pilgern sein. Oder muss es umgekehrt heißen? Erbaut wurde das Schloss, das wie eine Trutzburg wirkt, vom Meißener Bischof Johann VI. von Saalhausen im spätgotischen Stil, sparsam mit Elementen der Frührenaissance versehen.
Auf geschotterten Wegen in Stadtpark sind die Jogger los, die hoch erhobenen Hauptes, und schwitzend, stolz und grußlos am Klack-Klack meiner Stöcke vorüber laufen. Hinten auf dem T-Shirt einer Joggerin prangt das Motto ihres Laufs: Shape your form! Ja, denke ich, wenn man seine Identität an ein oktroyiertes Schönheitsideal knüpft, muss man sich eine solche Botschaft auf den Leib schneidern. Sie kann laufen so viel und so schnell sie will, ob aber so bei sich ankommt: Ich habe meine Zweifel, es sei denn, sie denkt bei der Gestalt, die sie formen will, an die Entwicklung ihrer Persönlichkeit.
An dem Kanal, der durch Stadtpark mehr steht als fließt, und den ich zuerst für die Mulde halte, haben sich die Angler versammelt. Ihre Zelte sind fürs Wochenende aufgebaut, und sie haben sich häuslich eingerichtet. Jeder mit einer Bierflasche in der Hand stehen sie dicht an der Wasserkante. Ich glaube nicht, dass sie vor Sonntagabend nach Hause gehen. Vor einem der Zelte raucht ein Grill, während die Aufmerksamkeit der beiden Männer auf etwas im Wasser gerichtet ist. Es riecht nach verbranntem Fleisch und es ekelt mich. Mittlerweile gehe ich auf dem Schotterweg neben einem niedrigen Deich.
Auf einer Brücke über den Fluss wird mir erst bewusst, welch ein großer Fluss die Mulde ist. Breit wie die Weser fließt er schnell unter mir, teilt sich um eine Insel, die ihn noch breiter und urtümlicher erscheinen lässt. Die Elbe bei Strehla war im Vergleich schmal und gebändigt. Die Weide, auf der die Herde lebt, ist eine Flussaue der Mulde, in die bei Hochwasser das überschüssige Wasser abfließen kann.
Vom anderen Ufer aus sehe ich die ersten Häuser von Grubnitz. Der Ort empfängt mich mit einem vielstimmigen Froschkonzert. Am Teich lauert eine Katze, hofft auf leichte Beute, sucht aber bei meinem Anblick schnell das Weite. Ich gehe außen um den Ort herum, durch Felder nach Nepperwitz, nur einen Kilometer entfernt. Die beiden Orte sind reizlos, ohne wirklichen Charme, und ich will nicht bleiben. Durchgangsorte, nicht mehr, die ich ein paar Schritte später wieder vergessen hätte, wären da nicht das Froschkonzert und Michael Fischer, ein deutscher Maler und Bildhauer, der sich, ganz seiner Profession verpflichtet, Fischer Art nennt. Ich raste an einer Bushaltestelle, bin mir nicht sicher, ob ich weitergehen oder mir den Flügelaltar mit den expressiv-naiven, biblischen Motiven ansehe, den der Künstler 2005 für die Dorfkirche gestaltet hat, nachdem das Hochwasser der Mulde das Kircheninventar 2002 zerstörte. Schließlich entscheide ich mich für eine weitere Kirche, und hoffe auf Erlösung von den schwarzen Figuren im Dom zu Wurzen. Der Künstler ist den kleinen Umweg wert. Im ersten Moment denke ich an Keith Haring, an Hundertwasser und Marvel Comics. Er nennt seinen Stil marktwirtschaftlichen Realismus, und lehnt sich ironisch an den sozialistischen Realismus vergangener Tage an. Die Farbigkeit und Lebendigkeit der Arbeiten von Fischer Art muss man gesehen haben; für den Wanderer auf der Via Regia ein leicht zu bewältigendes Must do. Satte Farben, große Flächen, einfache Strukturen, eine comic-artige Bildsprache, sozialkritisch, fast möchte ich sagen: Pop Art statt Fischer Art trifft es besser. Vor seinem Altar stehend erinnere ich mich an eine Brunnenanlage, die ich vergangenes Jahr in der Innenstadt von Frankfurt an der Oder gesehen habe. Ich habe nachgesehen: Im Jahr 2000 hat Fischer Art die hundert Meter lange Anlage geschaffen, in der sechs Meter hohe, schreiend bunte Skulpturen Wasser speien. Ein Künstler, dessen Visionen das Grau der Innenstädte mit Farben und Figuren belebt.
Wo bleibt Damian? Er hätte längst vorbeikommen müssen, nicht erst nach mehr als sieben Kilometern. Er lässt sich Zeit für eine Tasse Kaffee in der schnelllebigen Ära des Coffee To Go?
Bis nach Machern mäandert die Via Regia durch verblühte Rapsfelder. Für dieses Jahr ist es vorbei mit den gelben, weit ausgedehnten Flächen, die früh im Jahr das monochrome Grün der Weiden und Getreidefelder bunter färben. Auf anderen Feldern sind Mais und Sonnenblumen schon am Start. Machern hat Thietmar von Merseburg in seinen Chroniken erwähnt; damals hieß es latinisiert Mucherini und gehörte zum Bistum Merseburg. Der Name des benachbarten Wenigmachern, unglaublich, der Ort heißt wirklich so, klingt mir noch seltsamer im Ohr. Niemand ist unterwegs, den ich fragen kann, was es mit dem machern in den Ortsnamen auf sich hat. Nur zwei Frauen, die sich durch mich beim Einparken gestört fühlen. Ihre mürrischen Minen über Fußgänger sprechen Bände. Nun traue ich mich nicht einmal mehr, sie zu fragen.
Machern ist ein kleines Städtchen, in Autoentfernung gemessen, kurz vor Leipzig. Die Via Regia führt weit am Zentrum entfernt vorbei, und ich will so spät am Nachmittag keinen Umweg mehr machen. Was soll ich auch in Machern machen?
Ich biege auf den Weg zu einem Golf and Country Club ab; das Grün mit weißgekleideten Herren auf jeder Seite. Ich nutze den Schatten unter einem Baum, trinke, entspanne mich, trockne mein Hemd und warte darauf, dass Damian kommt. Mittlerweile bin ich zehn Kilometer voraus, und er hat mich immer noch nicht eingeholt. Roadrunner scheint mir inzwischen übertrieben. Ich bin neugierig geworden, wie schnell er wirklich geht, und wie viel Gerede ist. Schließlich ist er halb so alt wie ich. Konkurrenz entsteht schnell unter Männern, und ich ärgere mich über meine Gefühle. Täglich vierzig Kilometer. Das hat mir imponiert. Ich bin ein Greenhorn, und zufrieden damit, etwas mehr als zwanzig Kilometer zu schaffen; bis an meine Grenze. Er hat noch einen weiten Weg zu gehen und einen Termin. Die Via Regia schneidet den Golfplatz in zwei Hälften. Ein Kontrast, wie im Film: das gepflegte Grün der Anlage, die in sportliches Weiß gekleideten Golfer, während ich verschwitzt und etwas abgerissen, klackernd mit den Stöcken den Asphalt traktiere. Eine Fußreise bei fast dreißig Grad kann nicht anders sein. Die Struktur, die geraden Linien, die Ordnung und Aufgeräumtheit des Geländes, die wie aus dem Ei gepellten Männer, all das ähnelt einem Schachbrett mit strengen Regeln. Jetzt kommen mir meine Freiheit und Ungebundenheit, mitten in der ungeordneten Natur, abenteuerlich vor. Kein Fiddler's Green, kein mythischer Ort, eine Art Paradies für Seeleute, an dem es ewige Musik, Tanz, Rum und Freude gibt, ein Seemanns-Jenseits, wo es keine Arbeit oder Sorgen gibt, nur Genuss und Geselligkeit. Ich sonne mich noch selbstverliebt in diesem Gefühl, als einer der Weißen zielstrebig auf mich zukommt. Er wirkt interessiert. Als er mich erreicht, nimmt er gleich Blickkontakt auf, viele Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. Ob ich auf dem Jakobsweg pilgere, wieder das Woher und Wohin, und wie das ist, so allein unterwegs zu sein. Er spielt schon lange mit dem Gedanken, erzählt er, das auch zu versuchen. Immer wieder sieht er Pilger vorbeiziehen, und er ist neugierig auf etwas geworden, dass er noch nicht ausprobiert hat. Was braucht man dazu, wo übernachtet man, und welche Schuhe sind die richtigen? Meine Antworten spiegeln die Faszination in seinen Blick. Zufriedengestellt kehrt er zu seinem Spiel zurück, und ich frage mich, wie lange er noch braucht, für eine kurze Zeit auszubrechen, und wo sein Angstpol liegt. Der Golfplatz grenzt an einen größeren Wald mit dem seltsamen Namen Tresen, in den die Via Regia verschwindet. Der Kontrast verdichtet sich: Kultur und Ordnung verlieren sich in Natur und fast verblasster Ursprünglichkeit, die trotz Forstwirtschaft und angelegten Wegen noch um die Ecke blinzelt. Wald: das bedeutet schattiges, kühlendes Grün, durchsetzt mit lichten Sonnenflecken, die zwischen den Bäumen auf dem Weg tanzen. Aber auch Ungewissheit, Undurchschaubarkeit, Beengung. Ich fühle mich intensiver als in der Weite der Felder, die am Horizont mit dem Himmel verschwimmen. Es dauert nicht lange, und der Tresen spuckt mich wieder in die Sonne aus.
Jenseits der Felder liegt Cunnersdorf, ein ehemaliges Rittergut, in DDR-Zeiten eine Zentralstelle für Anwendungsforschung, die die Verwertbarkeit von Düngemitteln prüfte. Entstanden aus der Wüstung Cunradisdorf, Dorf des Konrads, des kühnen Rats, weiß die althochdeutsche Namensforschung. Wie man inzwischen weiß, ist es ein kühnes Unterfangen, die Felder zu düngen, und der Landwirt muss gut beraten sein, bei der Verantwortung, die die Natur ihm abverlangt. Irgendwann in seiner Geschichte müssen die Bewohner den Ort aufgeben haben, sonst hätte es keine Wüstung werden können.
Ein weiteres Mal bietet eine Kirchturmspitze mir Richtung und Orientierung. Wie wichtig waren diese Türme für den mittelalterlichen Pilger, dessen Wanderung unwägbarer und gefährlicher war als die meine? Ich beschließe, ein letztes Mal auf Damian zu warten, und wirklich, ein paar Minuten später sehe ich ihn lachend aus dem Wald kommen, seine Stöcke schwingend. Ein paar Worte noch, ein gemeinsames Selfie, und schon ist er auf und davon. Mehr ist auch nicht nötig. Ich folge seinem roten Rucksack noch eine Weile, bis der rote Fleck im Grün der Felder immer kleiner wird und ihn schließlich die Ferne schluckt. Kurz befällt mich Einsamkeit, bis ich mich erinnere, den Spuren vieler anderer Mitpilger zu folgen. Wer weiß, wie viele von ihnen vor oder hinter mir auf der Via Regia unterwegs sind. Damian war für einen Moment real, herausgehoben aus dieser Schar. Ihm bin ich wirklich begegnet. Uns verbindet eine reale Erinnerung, nicht die illusionäre Vorstellung einer Fiktion.
Cunnersdorf ist schnell erreicht und schnell durchwandert. Ich habe Leipzig im Blick, und will mich nicht mehr aufhalten. Ich gehe zügiger, die Stöcke regeln die Geschwindigkeit, ohne auf meine Füße zu achten. In Panitzsch ist es dann so weit. Ich bin zu schnell gegangen und brauche eine längere Rast; Füße und Rückenmuskeln verweigern sich meinem Willen anzukommen. Wieder einmal den gleichen Fehler: mehr am Ziel, als am Gehen orientiert. Am Ufer der Parthe falle ich über meine restlichen Vorräte her. Bis Leipzig muss ich ohne Wasser auskommen, aber mein Rucksack fühlt sich wieder leichter an.
Die ersten Vororte der Großstadt, Dreieck-Siedlung, Engelsdorf, Pauswitz. Ein Straßenname, Jakobspilgerweg, weist Weg und Richtung. Auf der B 6 in Richtung Innenstadt fließt dichter Verkehr an mir vorbei. Nur noch sieben Kilometer, und Leipzig, oder Leibzsch, wie man sächsisch sagt, liegt mir zu Füßen. Die Stadt ist eine Metropole, die erste, in der ich auf der Via Regia ankomme. Im Jahr 1165 wurde Leipzig Stadtrecht und Marktprivilegien verliehen, denn die Lage an der Via Regia hatte sich zu einem bedeutenden Handelszentrum entwickelt. Jetzt leben hier über eine halbe Million Menschen.
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