Ob eine Sache gelingt, erfährst du nicht, wenn du darüber nachdenkst, sondern wenn du es ausprobierst.
Anonym
Ich wache viel zu früh auf, weil Donner in der Ferne drohend grollt. Als ich aufstehe, spüre ich die Feuchtigkeit, die klamm im Raum hängt. Auch meine Sachen fühlen sich feucht an, es ist viel zu kalt und regnet noch immer. Draußen prasselt es auf das Pflaster und die Blätter der Kirschbäume schimmern nass im Morgenlicht. Über den Himmel von Strehla hat jemand einen bleigrauen Vorhang gezogen. Ob mir heute etwas gelingt, erfahre ich nicht, wenn ich nur darüber nachdenke. Ich muss los, und es auch ausprobieren.
Trotzdem lasse ich mir Zeit, habe es nicht eilig aufzubrechen, hoffe immer noch auf besseres Wetter. Ich frühstücke ausgiebig, und lese das fehlende Kapitel in Werner Rathgebers Pilgerabenteuer. Ein kurzweiliges Buch, das ich gestern Abend in der Bibliothek der Herberge fand, gespickt mit Selbstironie, mit manch einem interessanten Details. An manchen Stellen erkenne ich mich wieder, und muss lächeln, wie unerfahren ich noch bin. Es ist erfrischend, von anderen Wanderern zu lesen, denen es genauso ergeht wie mir in den letzten Tagen. Noch bevor ich aufbruchbereit bin, hat sich der Regen erschöpft und die Erde trocknet in der warmen Maienluft.
Wie üblich, beginnt der Tag auf asphaltierten Wegen zwischen Feldern. Es dauert auch nicht lange, bis es wieder regnet, dieses Mal nur leicht. Es ist Frühling, das muss sein, so wenig es mir gefällt. Genauso stelle ich mir den ergiebigen Landregen vor, von dem im Wetterbericht die Rede ist. Ich verpacke mich und den Rucksack wasserdicht und versuche aufs Neue, den Regen zu ignorieren.
Bald biegt der Feldweg auf eine Landstraße ins zwei Kilometer entfernte Leckwitz ab. Meine Stimmung bessert sich zunehmend. Mein linker Fuß, der vor ein paar Tagen noch schmerzte, dass ich kaum den Weg zum Lessingturm schaffte, hat sich inzwischen beruhigt. Durch das Kine-Tape entlastet, lässt er sich wieder aufs Gehen ein. Die Blasen sind gut abgeklebt und machen mir keine Probleme mehr. Die Elbe bleibt hinter mir zurück. Ich werde albern und improvisiere, ohne nachzudenken, sinnlose Blödelverse aus dem Stegreif:
Goodbye Elbefluss,
das war nur ein flücht'ger Kuss.
Goodbye Elbefluss,
weil ich nun weitermuss.
Goodbye Strehla Town,
bin doch nur ein alter Clown.
Goodbye Strehla Town,
was war, vergess' ich kaum.
Ich singe diese Vierzeiler zur Melodie von Rio Reisers traurigem Lied Juni Mond, dass mit der ungewöhnlichen Stimmung ganz zufrieden zu sein scheint. Beim Singen, zum Klack-Klack-Takt meiner Stöcke, komme ich richtig in Stimmung, und hoffe nur, Rio kann die Freude, die ich an meiner Blödelei habe, mit mir teilen. Auf diese Weise denke ich mir, mag so manches Volkslied beim Wandern entstanden sein.
Es bleibt bei den wenigen Tropfen, und ich werde unter dem luftdichten Poncho nasser, als es das bisschen Regen geschafft hätte. Also ziehe ihn wieder aus, damit mein nasses Hemd trocknen kann, und klemme ihn mir für alle Fälle unter den Schulterriemen. Doch der Morgenregen war der letzte für heute, und der Poncho ist bald wieder verstaut.
Bei all dem An- und Ausziehen, dem Ein- und Auspacken verfehle ich hinter Leckwitz den Pilgerweg erneut, und stehe schließlich am Ortsrand von Clanzschwitz, an der Straße nach Oschatz, als mir auffällt, dass es lange her ist, seit ich eine gelbe Muschel gesehen habe. Aber vielleicht liegt es auch an den fremden, slawisch klingenden Ortsnamen, die durch meinen Kopf kreisen. Ein kurzer Blick auf die Karte, ein Austausch mit einem hilfsbereiten Mann, der mein suchendes Umherschauen bemerkt hat, und schon ist das Dilemma behoben. Ich gehe über Liebschütz zurück zur Via Regia; vier Kilometer Umweg, mehr ist nicht passiert.
Als ich den Weg nach Liebschütz hinabgehe, sehe ich hoch über mir eine Bockwindmühle, und weiß, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Nur noch eine letzte Steigung den Hügel hinauf, und an der Mühle zurück auf die Via Regia. Etwas umständlich habe ich den Liebschützer Berg erreicht, mit 198 Metern die höchste Erhebung der Region. Trotz der geringen Höhe kann ich bis nach Oschatz auf die Doppeltürme der Sankt Egedinkirche sehen, die zur DDR-Zeit den Spitznamen Stegedin bekam.
Bockwindmühlen bewahren die älteste Windmühlenbauart Europas und waren im Mittelalter weit verbreitet. Die gesamte Mühle, zusammen mit dem Mühlenhaus, ist drehbar: Sie sitzt auf einem zentralen, senkrechten Holzbock; daher der ungewöhnliche Name. Die Mühle ruht auf einem hölzernen Kreuzgestell mit einem senkrechten Drehpfosten, der wiederum auf dem Fundament steht, und wird mithilfe einer langen Auslegerstange, des Steerts, manuell in den Wind gedreht. Das Mühlrad, ein Flügelrad, betreibt über ein Getriebe die Mahlsteine im Inneren der Mühle.
Die ersten Bockwindmühlen entstanden im 12. Jahrhundert, und waren einst in Nord- und Mitteleuropa, besonders für Deutschland, den Niederlanden, Frankreich und England charakteristisch. Ersetzt wurden sie durch die bekannteren, effizienteren Holländerwindmühlen, die nur die Kappe, nicht das ganze Gebäude drehen. Die Via Regia schlängelt sich über die grasige Hangkante des Liebschützbergs an der Mühle vorbei. Der weiche Boden federt ein wenig, eine Wohltat nach den zusätzlichen Kilometern Asphalt. Wie in einem Museum sitze ich auf einer der Bänke am Weg, beeindruckt von dem Erfindungsreichtum menschlicher Technik, die Naturkräfte (Wind) in mechanische Arbeit (Mahlen) umsetzt. Die Bockwindmühle ist ein frühes Beispiel, ein Meilenstein der mittelalterlichen Energiegeschichte.
Nach der Wende, so hörte ich gestern in Strehla, wollte ein Westdeutscher den Liebschützberg kaufen und ihn zur Schottergewinnung abtragen. Man muss sich das einmal vorstellen, die höchste, landschaftsprägende Erhebung mit einer gut erhaltenen, historischen Windmühle. Die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern war, dass fand ein auf Bergbaurecht spezialisierter Münchener Anwalt heraus, dem Berg einen für die Bevölkerung wichtigen Nutzen zu geben. So taten sich die beiden konfessionellen Kirchen zusammen, vorbildlich am Ökumenischen Pilgerweg, der die Via Regia auch ist, und zelebrierten die Himmelfahrtsmesse erstmals auf dem Liebschützberg. Durch dieses Engagement entstand eine Tradition und der Berg behauptete seinen Platz. Als 2006 der Kirchturm in Liebschütz saniert wurde, kam man auf die Idee, die kleinere der drei Glocken auf dem Berg in einen kleinen Glockenturm zu hängen, der seitdem neben der Bockwindmühle steht. Zu Christi Himmelfahrt läutet diese Glocke jedes Jahr zur Messe.
Die alte Salzstraße, wie die Via Regia hier heißt, verläuft über einen Höhenzug, zu dem auch der Liebschützberg gehört, bis nach Lampertswalde. Ein angenehm zu gehender sandiger, mit Steinen gemischter Weg, der sich vom Regen der letzten Tage weich unter den Sohlen anfühlt. Leicht hügelig wandere ich zum Schlosspark von Lamperswalde, wo mein Führer die Grüne Oase mit Erfrischungen für den Pilger empfiehlt, alternativ das Pilgermahl im Burgcafé. Die benachbarte Grüne Sakristei ist trotz des Geöffnet-Schilds geschlossen. Den Schlüssel soll es im Pfarrhaus geben. Im gegenüberliegenden Burgcafé sieht man mich nicht gern, und so verzichte ich auf was auch immer sie dort anbieten. Wie anders war die gastliche Pilgeroase in Crostwitz, wo morgens zuerst der Tisch mit Tee, Obst und Keksen für vorbeikommende Pilger gedeckt wurde, bevor wir frühstückten.
Ich suche mir eine schattige Bank im großen Schlosspark und packe mein eigenes Pilgermahl aus - Datteln und Bananen - das ich mit der Hintergrundbeschallung von Rasenmäher und Rasenkantenschneider, aber in der Gesellschaft von vier leicht bekleideten Göttinnen genieße.
Von Lamperswalde bis in die ländliche Kleinstadt Dahlen fehlen mir noch acht Kilometer Dahlen. Der Weg führt weitgehend über Asphalt und an Feldern vorbei. Sylvias Eisscheune, im Innenhof der Highlandpension, mit professioneller Eiskarte und blauweiß karierten Tischdecken, lässt manch italienisches Eiscafé blass erscheinen. Erwartungsgemäß ist geschlossen. Wer anders als der eine oder andere Pilger verirrt sich wochentags schon hierher?
Die Wolken über mir werden wieder dichter und dunkler. Ich steigere meine Geschwindigkeit und lasse mich von meinen Stöcken vorantreiben, werfe die Walking Machine an, bis mein Fuß wieder schmerzt. Aber es regnet nicht, und ich frage mich, was mein Unbehagen, im Regen zu wandern, bedeutet. Die Wolken schirmen die Sonne ab, es wandert sich angenehm, denn Schatten gibt es zwischen den Feldern keinen.
Kurz vor Dahlen komme ich durch ein Wäldchen, auf der einen Seite ein matschiges Gehege mit hellbraunen, langhornigen Galloway-Rindern, auf der anderen Seite ein Teich, aus dem ein Graureiher die Flucht ergreift, als ich näherkomme. Ich bleibe kurz, höre den Fröschen zu, die mir dankbar einen Quakwettstreit vorführen, weil ich den Reiher vertrieben habe, und gehe erst weiter, als sie ihr Konzert beendet haben. Auch der Kuckuck ist zurück, ein ganz eifriger Rufer, der gar nicht mehr aufhört mir zuzurufen, und nur für einen Moment innehält, um Luft zu holen.
Nachmittags erreiche ich Dahlen, steige vom Burgberg herab und hinauf auf den Marktplatz. Auf einer Bank am Brunnen mit der Statue eines gequält über den Platz schauenden Mannes, dessen Beine im Sockel, feststecken, und es nicht schafft, sich zu befreien, nehme ich den Rucksack von den Schultern. Die Etappe ist beendet.
Es ist noch früh am Nachmittag, und so richte ich mich am Brunnen häuslich ein, lüfte meine Füße und strecke mich auf der Bank neben dem gequälten Mann aus, bestaune das prachtvolle Rathaus, das die Marktszenerie beherrscht. Es ist wenig los auf dem Markt, im Zentrum von Dahlen, der wie in so vielen Städten zu einem Parkplatz verkommen ist. Hin und wieder kommen Autos, parken, Fahrer*innen steigen aus, und gehen hinüber in die Konditorei, das einzige geöffnete Geschäft am Platz, kommen mit verpackten Kuchen wieder heraus, steigen ein und fahren weiter. Eine absurde Beschäftigung, denke ich noch, die Zeit totzuschlagen, eine Frau mit kleinem, blauem Rucksack zu Fuß am Markt ankommt. Neugierig frage ich mich, ob sie wohl auch auf dem Via Regia unterwegs ist, komme aber zu dem Schluss, dass auch sie nur zur Konditorei will, in der sie dann verschwindet. Als sie wieder herauskommt, hat sie einen Coffee to go und ein Stück Torte in der Hand. Mit ihren beiden Schätzen steuert sie zielsicher auf meine Bank zu, die einzige im Schatten. Ich freue mich auf einen Small Talk, doch sie setzt sich, ein unsicheres Hallo murmelnd, ans äußerste Ende der Bank, ihren Blick starr geradeaus gerichtet. Ich versuchte es mit einem Guten Appetit und einem wohin des Wegs, erhalte aber nur eine einsilbige Antwort aus vollem Mund, die ich nicht verstehe. So sitzen wir schweigend nebeneinander, bis sie ihren missglückten Kaffeeklatsch beendet hat und grußlos verschwindet. Ich bleibe perplex zurück, komme mir vor wie ein Paria, und mache mich auf, um mein Quartier für die Nacht zu suchen.
Die Linden Pension entpuppt sich als ein Gebäudekomplex, der eine Seite eines Bauernhofs einnimmt. Eine zweigeschossige modern eingerichtete Unterkunft in der ich ein Einzelzimmer mit Doppelbett und eigenem Bad bekomme. Keine Pilgerherberge, eine touristische Pension mit besonderen Preisen für Pilger. Die luxuriöseste Unterkunft der Wanderung. Am frühen Abend bummele ich, trotz müder Füße, durch Dahlen, in der Hoffnung auf etwas Interessantes oder Sehenswertes, zuletzt wenigstens auf einen Biergarten oder ein ähnliches Lokal, finde aber weder das eine noch andere in dieser ländlichen Kleinstadt. Frustriert kehre ich in die Linden Pension zurück, ohne eine einzige Linde zu sehen.
Gestern habe ich zum ersten Mal Übernachtung mit Frühstück gebucht, da ich mir etwas Anderes gönnen wollte, als das ständig gleiche, morgendliche Brot-mit-Käse-Einerlei, wobei das Brot Tage alt und der Käse meistens durch die Hitze des Tages aneinander geschmolzen ist. Während ich vor dem reichhaltigen, aber einfachen deutschen Frühstück sitze, erscheint ein weiterer Gast im Frühstücksraum. Er hat ohne Frühstück gebucht, und ich lade ihn ein, sich mir anzuschließen, denn für mich hat mein Gastgeber reichlich aufgetragen. Aber er schlägt meine Einladung aus, und setzt sich mit einer kleinen Schale Müsli an den Nebentisch. Dann eben kein gemeinsames Frühstück und Gespräch. Welch eigenartige Begegnungen in Dahlen.
Es regnet nicht, als ich aufbreche, und es sieht auch nicht danach aus, obwohl sich gewaltige Kumulusberge über mir auftürmen. Die Via Regia führt, wie mittlerweile obligatorisch, zuerst ein paar Kilometer über eine Landstraße nach Bortzewitz, bis ich dann auf den Feldweg nach Börln abbiegen kann, der sich, noch aufgeweicht vom Regen der letzten Tage, weich und federnd gehen lässt. Ich freue mich über den guten Weg, fühle mich fit, weil endlich einmal alle Muskeln mitmachen; der zweite Tag, an dem nichts schmerzt. Die ersten drei bis vier Tage einer Fußreise finde ich immer anstrengend, so richtig eingelaufen bis ich erst nach ein bis zwei Wochen. Jetzt, wo meine Zeit abläuft, wandere täglich entspannter, ohne dass mich mein Körper ablenkt.
Die sechs Kilometer nach Börln sind schnell erledigt, und ich bin überrascht, wie schnell der Ort aus den Feldern auftaucht, ein Reiterort, wie mich die Info-Tafel am Ortseingang aufklärt. Und richtig, auf der anderen Seite trainieren zwei Reiter mit Helm einsam die Hohe Schule. Wie intelligent Pferde sein müssen, dass sie diese komplizierte Schrittfolge meistern und fehlerfrei vorführen. Neben dem Reitplatz macht sich eine Kinderschar auf dem Hof der Kita ausflugfertig. Die vier Erziehrinnen haben alle Hände voll zu tun, wenigstens ein bisschen Ordnung in die Rasselbande zu bringen, die eine andere Vorstellung davon hat, was Ordnung ist. Es gelingt den Kindergärtnerinnen nicht ohne Schimpfen und Drohen, doch das lässt die meisten Kinder schlicht unbeeindruckt.
Ich gehe schnell weiter, und finde eine Bank vor der Kirche neben einem leerstehenden Schloss. Am Tor ein Schild: Renovierungsarbeiten. Inzwischen haben es auch die Erzieherinnen geschafft. Fünfzehn Minuten später ziehen die Kinder ordentlich aufgereiht, kichernd und tuschelnd an mir vorüber in den Wald. Ich folge der Via Regia weiter über Mark Stolpen, ein Weiler an einem großen See, auf dem einsam ein Schwan seine Kreise zieht. Bevor ich Heyda erreiche, biegt die Via auf einen Waldweg ab, den man idyllisch Lindenweg getauft hat. Im Staub der Straße hat ein Tausendfüßler einen Regenwurm erbeutet, den er ununterbrochen aggressiv attackiert, mit dessen Länge aber überfordert ist. Wie lange mag dieser brutale Angriff noch dauern, dem der Wurm nichts entgegensetzen kann, bis ein unachtsamer Wanderer auf die beiden tritt oder sich ein Vogel die Beute holt? Der Lindenweg ist nass und matschig, die vielen Schlaglöcher noch vom Regen gefüllt. Ich laufe einen Zick-Zack-Kurs durch den Wald, der meine ganze Konzentration benötigt. Ich denke an Crostwitz zurück, und daran, wie tief ich dort in den Schlamm eingesunken bin. Trotzdem gehe ich gerne durch diesen schönen Wald, der eigenartigerweise Bremen Wald heißt.
Ein Reh, dass ich wohl aufgeschreckt habe, quert plötzlich meinen Weg, und flieht mit großen Sätzen durch den Forst. Es ahnt nicht, dass es mich genauso erschreckt hat. Die Via Regia, die jetzt mit dem Lutherweg identisch ist, endet abrupt auf einer Motorsport-Rennbahn, die an einem Steinbruch entlangführt. Anscheinend vorsorglich biegt der Weg auf einen Pfad unter Bäume ein. Ich kämpfe mich durchs Unterholz, ohne den Pfad noch zu erkennen. Und dann stehe ich trotzdem auf der Rennstrecke. Dem Lutherweg scheint das nichts auszumachen. Noch ein Stück Wald, dann ein neuer Feldweg, der nach Dornreichenbach führt, trotz des malerischen Namens eine blasse, uninteressante Ortschaft, die ich schnell hinter mich bringe, obwohl das Dorf nicht nur eine Altenresidenz, sondern auch einen Tierpark aufzuweisen hat, für den aufrechtstehende Erdmännchen auf einem Plakat werben. Wie kurios und wie bedauerlich, dass ich selten etwas über die Bedeutung dieser Ortsnamen erfahre, die so mysteriös in meinen Ohren klingen. Doch Pilger, und ich hoffe, auch Wanderer, sind hier willkommen, zumindest verspricht das eine große Tafel, auf der ausführlich auf die Pilgerfahrt der Via Regia eingegangen wird. Ob die Menschen im Ort das auch so sehen? Die wenigen, denen ich begegne, sehen mich nicht sehr freundlich an.
Auf der Landstraße, und kurz darauf auf einem Feldweg, wandere ich weiter nach Körlitz, während die Wolken über mir immer schwärzer werden, und mich der kalte Wind im Rücken vorwärtsdrängt. Die ersten Tropfen überraschen mich, als ich am Wegrand eingedöst bin. Schnell schultere ich meinen Rucksack, und mache Tempo mit den Stöcken. Der bequemen Holzbank unter dem Maibaum in Körlitz widme ich nur für einen Schluck aus der Flasche meine Aufmerksamkeit.
Es bleibt auch hinter Körlitz bei den Feldwegen. Vorbei an einem eingezäunten Feld mit Sonnenkollektoren. Über ausgedehnte Erdbeerfelder entlädt ein Traktor mit Sprühdüsen gerade seine giftige Fracht. Schockiert denke ich an die Erdbeeren, die mir gestern in Dahlen so gut geschmeckt haben. Obwohl Wind und Wolken Regen androhen, bleibt es bis Roitzsch trocken. Erst im Ort beginnt es zu regnen. Unter einer großen Linde mit dichter Krone, die wie gerufen kommt, wartete ich, bis der Regen sich verzogen hat. Roitzsch ist bereits ein Ortsteil von Wurzen, wo ich ohne Schwierigkeiten die Jakobsgasse finde. In der Herberge Al Hada de las Huerbas, ein seltsamer Name in einer sächsischen Kleinstadt, der mich an die weit entfernten Caminos de Santiago denken lässt, empfängt mich die Kräuterfrau herzlich. Eine engagierte, begeisterte Herbergsmutter hat ein luxuriöses Refugio eingerichtet, in dem ich mich wie zu Hause fühle. Ich erinnere mich an die Herberge in Crostwitz, wo die Begeisterung für den Pilgergedanken ein ähnlich liebevoll eingerichtetes Domizil entstehen ließ.
Später kommt noch Damian dazu, den eine Frau in der Jakobsgasse aufgegriffen und in die Herberge gebracht hat. Damian ist Pole, um die Dreißig, dem die Freude, nach Santiago de Compostela zu pilgern aus allen Poren dringt. Er kommt aus Krakau, über Görlitz und will über die Via Regia weiter nach Santiago. Aber er geht nicht, er rennt. Ich nenne ihn einen Roadrunner, und er lächelt zufrieden zurück. Er will die Strecke in vier Monaten bewältigen, vierzig Kilometer täglich zurücklegen, mit dreizehn Kilo auf dem Rücken - über Frankfurt, Paris, St. Jean-Pied-de-Port. Dort will er Anfang Juli seine Freundin treffen, um gemeinsam mit ihr nach Santiago de Compostela zu pilgern. Heute Abend telefoniert erst einmal ausgiebig mit seiner Familie in Polen: zuerst Freundin, dann Mutter und Vater, und schließlich Onkel und Tante. Seine Art, die Familie auch unterwegs mit dabei zu haben.
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